Swiss Wildlife – Auf den Spuren der Wölfe
Swiss Wildlife – Auf den Spuren der Wölfe
 Datum: 16.05.2018  Text: Mirjam Milad 

Swiss Wildlife – Auf den Spuren der Wölfe

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Swiss Wildlife – Auf den Spuren der Wölfe
Sie wurden verteufelt, verfolgt und getötet, ihr Lebensraum zerstört. Innerhalb weniger Jahrhunderte schaffte es der Mensch, Bären, Luchse und Wölfe in der Schweiz auszurotten. Nun ist der Wolf zurückgekehrt. Auf leisen Pfoten – aber nicht, ohne Spuren zu hinterlassen. Der Schweizer Wildtierfotograf Peter Dettling ist ihnen gefolgt.
Der Wolf hat ihn wahrgenommen und blickt in seine Richtung. Schaut ihm direkt in die Augen – ohne es zu wissen. Denn das Gesicht des Mannes, der ihn vom anderen Ende der Lichtung aus ebenso gebannt betrachtet, verbirgt sich hinter einer Spiegelreflexkamera und ihrem Teleobjektiv. Der Wolf hebt den Kopf. Misstrauisch macht er einen Schritt nach vorn, dann wieder zurück. Er ist unsicher. Ist dieser Mensch harmlos oder stellt er eine Bedrohung dar? Dann trifft er eine Entscheidung: Mit einem beherzten Satz verlässt er endgültig seine Deckung, springt eilig den Hang hinauf und verschwindet hinter einer Kuppe.

Die Begegnung dauert keine Minute. Doch sie reichen für ein paar Fotos. Die Bilder, die der Wildtierfotograf Peter Dettling an diesem Abend im August 2006 in der Surselva aufnimmt, sind mit die ersten, die überhaupt von einem wild lebenden Wolf in der Schweiz gemacht werden. Fünf Jahre zuvor ist das Tier aus Norditalien aufgetaucht. Eher artuntypisch lebt es als Einzelgänger, ernährt sich vor allem von Rotwild, Rehen und Gämsen, reisst ab und an ein Schaf. Im Jahr 2009 verliert sich seine Spur.
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Verfolgte Jäger

Ursprünglich waren Wölfe, aber auch andere Grossraubtiere wie Braunbären und Luchse, in der ganzen Schweiz verbreitet. Doch ihre Lebensgrundlagen wurden weitgehend vom Menschen zerstört: Intensiv genutzte, oft übernutzte Wälder boten im 18. und 19. Jahrhundert nur noch wenig Rückzugsmöglichkeiten. Wild, die natürliche Beute des Wolfs, war durch Überjagung stark reduziert. Als die Wölfe vermehrt auf Schafe und Ziegen auswichen, stellte ihnen der Mensch noch stärker nach: Sie wurden erschossen, gefangen oder vergiftet. «Über Jahrhunderte wurde der Wolf regelrecht verteufelt», sagt Peter Dettling.

Ende des 19. Jahrhunderts galten Wolf und Luchs in der Schweiz als ausgerottet, Bären kamen nur noch in einzelnen Gebieten der Südostschweiz vor. Erst durch entsprechende Schutzmassnahmen konnten sich Wälder und Wildbestände im Alpenraum erholen. Während Luchse aktiv in der Schweiz wiederangesiedelt wurden, kehren Wölfe und Bären auf natürlichem Weg zurück. Im Jahr 2011 wandert ein einzelnes Wolfsweibchen von Norditalien über das Wallis bis nach Graubünden an den Calanda, den Hausberg von Chur. Einige Monate später folgt ihr ein Männchen nach. Die beiden paaren sich, im Frühjahr darauf bekommen sie Nachwuchs. Sie bilden das erste gesichert nachgewiesene Wolfsrudel der Schweiz seit 150 Jahren. Auch in den folgenden Jahren ziehen sie erfolgreich Junge auf. Ein zweites Rudel siedelt sich 2015 östlich von Bellinzona im Tessin, ein drittes 2016 bei Augstbord im Oberwallis an. Momentan leben etwa vierzig bis fünfzig Tiere in der Schweiz, in diesem Frühling dürften weitere hinzukommen.
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Verstehen durch Beobachtung

Seit er in den 90er-Jahren gemeinsam mit seinem Vater nach Alaska reiste, hat Peter Dettling die Sehnsucht nach Wildnis nicht mehr losgelassen. «Ich dachte, dass ich nur dort leben kann, wo es eine vergleichbare Natur gibt», erzählt er. 2002 wandert er nach Kanada aus, wo der 45-Jährige seither als Wildtierfotograf arbeitet. Als er von der Rückkehr der Wölfe in die Schweiz erfährt, zieht es ihn zurück in seine Heimat. Er möchte die Tiere dokumentieren. Ist überzeugt, dass man den Wolf nur richtig verstehen kann, wenn man ihn in der Natur beobachtet. Ähnlich wie sein Vorbild, der kanadische Biologe und Autor Farley Mowat, versteht sich Peter Dettling als Aufklärer und Fürsprecher der Wölfe.  

2013 lädt ihn das Schweizer Fernsehen ein, bei einem Film über die Wölfe am Calanda mitzuwirken. Zu Gesicht bekommen sie die Tiere während der zehntätigen Drehzeit allerdings nicht. Einen Tag nachdem das Filmteam abgereist ist, macht sich Peter Dettling noch einmal mit seiner Assistentin Tiffany Moore auf den Weg in die Berge. Noch vor Sonnenaufgang, im Schein ihrer Stirnlampen, wandern sie zu ihrem Beobachtungsplatz am Calanda. Als sie ankommen, montieren sie leise die Kamera auf dem Stativ, tarnen sie mit einem Tuch und warten schweigend. Unterdessen beginnt es zu dämmern. Mit tiefrotem Leuchten kündigt sich der neue Tag an, die ersten Vögel beginnen zu zwitschern. Wie immer hält Peter Dettling grossen Abstand zu den Orten, wo er die Wölfe vermutet. Nutzt ein starkes Teleobjektiv, um die Tiere möglichst ungestört zeigen zu können. Dann, plötzlich, ein Laut! Aufgeregt horchen die beiden auf. Wölfe? Wenige Augenblicke später durchbricht das helle langgezogene Heulen mehrerer Wolfsjungen die morgendliche Stille. Ein Gänsehaut-Moment, der Peter Dettlings Leben stark beeinflusst: Er beschliesst, die Wolfsfamilie am Calanda über einen längeren Zeitraum zu dokumentieren. Es werden sechzehn Monate, verteilt auf dreieinhalb Jahre, in denen Peter Dettling jeden Tag im Gelände verbringt. Bei Sonne, Regen, Gewitter und Schnee. Teilweise übernachtet er in den Bergen, wo er eine Hütte nutzen kann. «Ab und zu konnte ich die Wölfe hören und wusste dadurch, wo sie ungefähr waren», erzählt er. Dann wartet er oft viele Stunden am gleichen Ort. Morgens und abends ist die Wahrscheinlichkeit, die Tiere zu sehen, am grössten. Bei der Suche nach den Wölfen und ihren Spuren nimmt Peter Dettling auch die Hilfe des ortsansässigen pensionierten Wildhüters Georg Sutter in Anspruch, der sich intensiv mit den Wölfen beschäftigt hat.

Peter Dettling, der in Kanada mit Wolfsforschern zusammengearbeitet hat, will mehr über die Lebensweise der Wölfe am Calanda erfahren. Auch, weil man ihm vorhält, dass er seine Erfahrungen nicht auf die Schweiz übertragen könne. «Aber das, was ich in der Schweiz beobachten konnte, entspricht genau dem, was ich aus Kanada kenne», erklärt er. Ein Rudel besteht aus etwa acht bis zehn Tieren – dem Elternpaar und vier bis sechs Welpen, die im April oder Mai zu Welt kommen. Dazu bleiben meist ein bis zwei Jungwölfe aus dem vorherigen Wurf noch länger bei der Familie und helfen bei der Aufzucht der jüngsten Geschwister mit. «Als Babysitter sozusagen», sagt Peter Dettling. Tatsächlich sind Wölfe sehr soziale Tiere. Die Autorität liegt beim Elternpaar, das oft ein Leben lang zusammenbleibt. Die meisten Jungwölfe wandern im Alter von zehn bis zweiundzwanzig Monaten ab, um sich ein eigenes Revier zu suchen. Dabei können sie Strecken von mehreren Hundert Kilometern, in Ausnahmefällen auch über tausend, zurücklegen. Ein Wolfsrevier umfasst in Mitteleuropa durchschnittlich zweihundert Quadratkilometer. «Den Sommer über, wenn die Wölfe Junge haben, halten sich die Tiere mehr oder weniger am gleichen Ort auf», sagt Peter Dettling. Im Winter, wenn die Wölfe ihrer Beute in tiefere Lagen folgen, sei es dagegen viel schwieriger, sie zu finden. Das Revier am Calanda bietet nicht nur Rückzugsräume, es gleicht auch einer reich gefüllten Vorratskammer: Hier leben sehr viele Rothirsche, Gämsen und Rehe, die einen Schwerpunkt auf dem Speiseplan der Wölfe bilden. Ab und zu erbeuten sie auch kleinere Säugetiere. Und, wenn sich ihnen die Möglichkeit bietet, einige Ziegen oder Schafe. In Einzelfällen töten Wölfe aber auch wesentlich mehr Tiere, als sie sofort nutzen können,  nämlich dann, wenn sich viele Beutetiere auf kleinem Raum ohne Fluchtmöglichkeit befinden. Diese Situation kommt vor allem in bewirtschafteten Gebieten vor; in der Natur bietet sich Wölfen nur selten die Gelegenheit, mehr als ein Tier auf einmal zu fangen. In der Regel bevorzugen sie Beute, die leicht zu jagen ist, das heisst junge, schwache oder kranke Tiere.
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Hirten, Hunde, Zäune

Um die Konflikte zwischen Wolf und Schafhaltern in der Schweiz zu entschärfen, fördert der Bund Massnahmen zum Schutz der Herden und beteiligt sich mit 80 Prozent an der Entschädigung gerissener Tiere. Der Wolf ist in der Schweiz nach Landesrecht und der Berner Konvention, einem völkerrechtlichen Vertrag des Europarats über den Schutz wild lebender Tier- und Pflanzenarten aus dem Jahr 1979, geschützt. Dennoch werden in Einzelfällen Abschüsse bewilligt. Voraussetzung: Ein Wolf reisst nachweislich mindestens 25 Schafe innerhalb eines Monats oder 35 Schafe innerhalb von vier Monaten. Bei den getöteten Schafen muss es sich ausserdem um von Hirten, Herdenschutzhunden oder Zäunen geschützte Tiere handeln.

Wölfe sind sehr lernfähig und insbesondere in Rudeln mit ihren stabilen Familienstrukturen in der Lage, ihr Wissen weiterzugeben. So auch, dass Nutzvieh keine optimale Beute ist. Das bestätigt auch der Biologe David Gerke. Seit zwölf Jahren verbringt er beinahe jeden Sommer als Schafhirte auf der Alp. Wenn er in Streifgebieten des Wolfs arbeitet, unterstützen ihn speziell geschulte Herdenschutzhunde. Zwar könnten auch diese keinen vollständigen Schutz garantieren, aber die Zahl der Wolfsangriffe nehme massiv ab. «Das Calanda-Rudel ist ein gutes Beispiel dafür», sagt Gerke. Seit hier Schutzmassnahmen greifen, werden kaum noch Schafe gerissen.» Dagegen töten einzelne Wölfe in Gebieten ohne Herdenschutz auch mal deutlich mehr Schafe. Im vergangenen Jahr etwa zweihundert. «Im Verhältnis zur Anzahl der Gesamtzahl der Schafe und denen, die durch Krankheiten, Blitzschlag oder Abstürze umkommen, nicht so viel, wie es zunächst klingt», sagt Gerke. Er ist ausserdem Präsident der «Gruppe Wolf», einem Verein, der über den Wolf informiert, sich politisch pro Wolf positioniert und ­Herdenschutzmassnahmen unterstützt. Ungewöhnlich, dass sich ein Hirte für den Wolf einsetzt? «Ja und nein», sagt David Gerke. Man müsse zwischen Schafzüchter, -­halter und -hirte differenzieren: Während Erstere häufig wolfsfeindlich eingestellt seien, handele es sich bei den Hirten oft um Personen, die eine grosse Faszination für die Natur hätten. Sie seien ebenso wenig blinde Wolfsbefürworter wie radikale Gegner. Für ihn selbst sei der Wolf einfach ein einheimisches Wildtier und Teil des Ökosystems. Gerke ist auch Jäger. Der Einfluss der Grossraubtiere auf ihre Beute sei klar erkennbar, sagt er, vor allem auf ihr Verhalten: «Gämsen ziehen sich stärker in felsiges Terrain zurück, Rehe halten sich vermehrt in struktur- und deckungsreichen Wäldern auf.» Das bedeute nicht, dass weniger Tiere vorhanden, diese aber schwerer zu erlegen seien. «Der eine Jäger sieht das als positive Herausforderung, der andere ist damit überfordert.»
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Peter Dettling

Der mehrfach ausgezeichnete Naturfotograf Peter Dettling wurde im Kanton Graubünden geboren. Seit 2002 lebt er in der Nähe des Banff-Nationalparks in Kanada, wo er mit Wolfswissenschaftlern zusammenarbeitete. »Ich wollte die Wölfe nicht nur fotografieren, sondern auch verstehen«, sagt er.

peterdettling.com

Schlüssel zur Natur

Nicht nur die Befürworter, auch die Gegner haben sich formiert – zum Beispiel im Verein «Lebensraum Schweiz ohne Grossraubtiere». Im Rahmen seines Film- und Foto-Projekts dokumentiert Peter Dettling die Menschen und ihre ­Meinungen, die ­einen Einfluss auf die Schweizer Wölfe haben können. Dabei erhält er die Genehmigung, während einer Versammlung der Wolfsgegner zu filmen. Für ihn sind die Vorträge der Redner erschreckend realitätsfern. «Sie bestimmen den Wolf als Sündenbock für jeglichen Missstand», findet er. Doch es gibt nicht nur «pro» und «contra», nicht nur erneute Ausrottung oder völligen Schutz. So schlägt der Schweizer Bundesrat dem Parlament eine Anpassung des Jagdgesetzes vor. Durch sie soll der Schutz der Wölfe gelockert werden, um Wolfsbestände stärker regulieren zu können.

Was ihn das Projekt über die Wölfe gelehrt hat? «Enorm viel Ausdauer», sagt der Fotograf und lacht. Teilweise hat er Wochen im Gelände verbracht, ohne die Wölfe auch nur zu hören, geschweige denn zu sehen. «Aber auch, wie wenig wir immer noch von der Natur wissen.» Stellt der Wolf also eine Chance für die Alpenländer dar? «Ich glaube, der Wolf ist eine Art Schlüsselfigur», sagt Peter Dettling. «Wenn wir bereit sind, mit dem Wolf zu leben, öffnen wir die Tür für die Natur im Allgemeinen, die Koexistenz von Mensch und Tier». Er hält einen Moment inne, dann fügt er hinzu: «Ich meine, wenn wir es nicht schaffen, hier mit den Wölfen zu leben, dann steht es schlecht um unsere Gesellschaft.»
Wolf und Bergsport
Müssen Bergsportler ihr verhalten ändern?
Nein. Wanderer, Biker und andere Nutzergruppen können sich wie gewohnt in der Natur bewegen. Allerdings sollten Hunde im Wolfsgebiet immer unter Kontrolle sein, da sie vom Wolf als Eindringling oder Beute betrachtet werden können. Essensreste sollten nicht in der Natur entsorgt werden, damit der Wolf den Menschen nicht langfristig mit Futter in Verbindung und sich dadurch letztendlich selbst in Gefahr bringt.

Wie verhalte ich mich, wenn ich einen Wolf sehe?
Ruhig bleiben, dem Wolf nicht entgegengehen, sondern sich langsam zurückziehen. Wenn der Wolf nicht sofort flieht, mit lauter Stimme auf sich aufmerksam machen. Verhaltensauffällige und wenig scheue Tiere sollten dem zuständigen Wildhüter gemeldet werden.

Wie sollte ich mich gegenüber Herdenschutzhunden verhalten?
Ruhig bleiben, keine hektischen Bewegungen machen, langsam und wenn möglich in grösserem Abstand an der Herde vorbeigehen. Als Mountainbiker auf jeden Fall absteigen, nicht mit dem Bike nahe an der Herde oder durch die Herde fahren. Wer einen Hund dabei hat, sollte ihn an der kurzen Leine führen, damit er nicht auf die Herde zuläuft.  

Wo kann ich mich über Wölfe informieren?
Zum Beispiel beim WWF Graubünden, der Exkursionen in Begleitung des ehemaligen Wildhüters Georg Sutter anbietet. Die Chance, Wölfe zu sehen, ist äusserst gering, doch die Teilnehmer erfahren eine Menge über die Tiere und das Gebiet, in dem sie leben.

wwf-gr.ch