Walliser Winkelzug – Haute Route mit Abstecher
Haute Route? Ausgebucht! Der Ansturm auf die «Königin der Skitouren» ist ungebrochen,
und zwar zu Recht. Im Schweizer Teil des Skitourenklassikers lockt eine ruhige, alpine Variante mit Viertausender-Option. Der Abstecher zur Dent d’Hérens lohnt sich selbst dann, wenn es mit dem Gipfel nicht klappt. Denn er beweist: Der Zauber der Haute Route ist noch nicht verflogen.
und zwar zu Recht. Im Schweizer Teil des Skitourenklassikers lockt eine ruhige, alpine Variante mit Viertausender-Option. Der Abstecher zur Dent d’Hérens lohnt sich selbst dann, wenn es mit dem Gipfel nicht klappt. Denn er beweist: Der Zauber der Haute Route ist noch nicht verflogen.
Am ersten Abend, auf 2928 Meter über Null, kommt einem dann dieses Zitat in den Sinn. «Schnee bedeutet Hunger», dichtete der Walliser Schriftsteller Maurice Chappaz in seinem Buch Haute Route von 1974, der zeitlos gültigen Pflichtlektüre zur gleichnamigen Tour. Stimmt schon, die Haute Route macht Appetit. Aber Hunger? Hier, auf der Cabane des Dix, zwischen glutenfreien Crêpes, zehn verschiedenen belgischen Biersorten und einem Flachbildfernseher, über den Drohnenvideos flimmern?
Zugegeben, wir sind ja erst einen Tag unterwegs. Denn nicht klassisch in Chamonix, sondern in Arolla, dem Abschluss des Val d’Hérens, hatte Bergführer Walter «Wält» Hungerbühler drei seiner Stammgäste zum Tourenauftakt begrüsst. Nur eine halbe Haute Route? Das trifft es nicht ganz. Denn der alpine Abstecher, den Wält erst zum zweiten Mal anbietet, verspricht keine halben Sachen, sondern nicht weniger als den «letzten Viertausender», die Dent d’Hérens. Nachbarin des Matterhorns, 4171 formschöne Meter hoch. Warum der letzte? «Er liegt eben ganz hinten im Eck, und ich kenne viele, die ihn noch nicht haben», sagt Wält. Auch Franz nicht, einer der Gäste, der schon 40 der 48 Schweizer Viertausender im Tourenbuch stehen hat.
Also eine halbe Haute Route – plus X. Wält hat mit seiner Routenkombination einen geschickten Winkelzug gelegt im Walliser Teil der «Königin der Skitouren». Die eben nicht nur sehr schön, sondern auch sehr begehrt ist. Fakt ist, dass die Cabane des Dix den dritten Rang in der Besucherstatistik aller Schweizer Hütten belegt. Fakt ist, dass die beiden achtköpfigen Schneekarawanen aus Engelberg und Frankreich am Nadelöhr namens «Mur de la Serpentine» einen prächtigen Stau fabrizieren. Und Fakt ist, dass weiter oben am Pigne d’Arolla, «im Herzen der grossen Mächte», wie Chappaz schrieb, die Helikopter herumknattern und Freerider ausspucken. Ist dieser alte Zauber der Haute Route, den Chappaz in seinen meisterhaft gedrechselten Sätzen beschrieb, wirklich verflogen?
Zugegeben, wir sind ja erst einen Tag unterwegs. Denn nicht klassisch in Chamonix, sondern in Arolla, dem Abschluss des Val d’Hérens, hatte Bergführer Walter «Wält» Hungerbühler drei seiner Stammgäste zum Tourenauftakt begrüsst. Nur eine halbe Haute Route? Das trifft es nicht ganz. Denn der alpine Abstecher, den Wält erst zum zweiten Mal anbietet, verspricht keine halben Sachen, sondern nicht weniger als den «letzten Viertausender», die Dent d’Hérens. Nachbarin des Matterhorns, 4171 formschöne Meter hoch. Warum der letzte? «Er liegt eben ganz hinten im Eck, und ich kenne viele, die ihn noch nicht haben», sagt Wält. Auch Franz nicht, einer der Gäste, der schon 40 der 48 Schweizer Viertausender im Tourenbuch stehen hat.
Also eine halbe Haute Route – plus X. Wält hat mit seiner Routenkombination einen geschickten Winkelzug gelegt im Walliser Teil der «Königin der Skitouren». Die eben nicht nur sehr schön, sondern auch sehr begehrt ist. Fakt ist, dass die Cabane des Dix den dritten Rang in der Besucherstatistik aller Schweizer Hütten belegt. Fakt ist, dass die beiden achtköpfigen Schneekarawanen aus Engelberg und Frankreich am Nadelöhr namens «Mur de la Serpentine» einen prächtigen Stau fabrizieren. Und Fakt ist, dass weiter oben am Pigne d’Arolla, «im Herzen der grossen Mächte», wie Chappaz schrieb, die Helikopter herumknattern und Freerider ausspucken. Ist dieser alte Zauber der Haute Route, den Chappaz in seinen meisterhaft gedrechselten Sätzen beschrieb, wirklich verflogen?
Alter Zauber, weisse Finsternis
Es sieht nicht danach aus. Da ist die geheimnisvolle Spur des Luchses auf 3600 Metern. Der entrückt schöne, demütig machende, unten noch stahlblaue und oben schon blütenweisse Mont Blanc de Cheilon beim Sonnenaufgang. Die schlichte Geometrie und die reduzierten Farben des Hochgebirges, die den Kopf freiräumen. Das nicht buchbare Glück, dank allabendlichen Schlechtwetters jeden Morgen bergauf und bergab durch frischen Pulverschnee zu pflügen. Selbst Wält, der das hier alles schon kennt, staunt über die einmalig guten südseitigen Abfahrten hinab zur Cabane des Vignettes, auf der wir am letzten Tag der Saison eintreffen. Die Hälfte der Tische und Bänke in der Gaststube sind bereits verräumt. Wer nun mit ein paar Keksen und lauwarmem Teewasser rechnet, unterschätzt Jean-Michel Bournissen und seine Frau Karine, eine gebürtige Korsin: Bis zuletzt brutzeln sie ihre Drei-Personen-Röstis mit Speck, Käse und Ei als Empfangsmahl, serviert mit dem treffenden Hinweis, dass es auch für fünf reiche. Im Hüttenbuch findet sich trotz eifrigem Blättern nur ein einziger Eintrag mit dem Ziel Aostahütte, unserem Ziel – schon lässt die Seltenheit des Vorhabens wohlige Anspannung aufsteigen. Abends Pasta mit Chorizo und Ratatouille, dazu ein feiner Rotwein von Gamay aus dem nahen Rhonetal. Schnee bedeutet Hunger?
«Zwischen den Walliser Viertausendern kommt das Schlechtwetter schnell.
Bergführer Wält navigiert durch die «weisse Finsternis». »
Bergführer Wält navigiert durch die «weisse Finsternis». »
Wie viel härter war wohl die Haute Route, wie sie Chappaz und seine Vorgänger erlebt hatten, ohne die Segen winddichter Softshells. Ultraleicht-Ausrüstung oder die Wärme heimeliger Hütten? Natürlich ist die Route immer noch ernst. Ein paar Jahrzehnte machen die Faust des Wetters nicht milder. Unbarmherzig wie immer bestraft der faulige Schnee jene, die spät aufbrechen und ihre Ski nicht gewachst haben. Und dann trifft auch uns die «weisse Verfinsterung des Tages», von der Chappaz sprach: Gerade noch hat man auf dem flach und glitzernd daliegenden Glacier d’Arolla zum millionsten Mal die zwei Grüntöne von Hose und Rucksack des Vordermanns untersucht, da ziehen dunkle Wolken auf. Die Harscheisen kreischen beim Eiertanz auf den steilen Grenzsattel des Mont Brulé. Zwei Franzosen verirren sich auf den benachbarten Pass, bemerken ihren Fehler, kehren um, holen uns ein, «Bonjour, on vient de Lyon.» Oben am Pass empfängt uns Italien mit Nebel. Wält manövriert uns mit dem Kompass entlang der 3300-Meter-Linie über den Haut Glacier de Tsa de Tsan zum Col de la Division. Nomen est omen: Genau hier und genau jetzt, als das Wetter am schlechtesten ist, teilen sich die Wege, beginnt unser alpiner Abstecher zur Dent d’Hérens. Im Schneetreiben versteckt sich die Abseilstelle vor Wält, der sie zwei Jahre zuvor selbst eingerichtet hat.
Abseilen ins weisse Nichts: Das war es dann mit der vermeintlichen Komfort-Skitour. Die Neurologin im Team, die noch am ersten Tag davon sprach, dass ihr dank ihrer Forschungen zum Gleichgewicht «nie mehr schwindlig werde», schlenkert nervös mit den Armen. Es ist einer dieser Momente, in denen der Kopf dem Körper vorauseilt, sich in ein warmes Schnellrestaurant an der Autobahn wünscht, aber die Beine erst liefern müssen. Oder wie Chappaz schrieb: «Warum bin ich nicht in meinem Obstgarten geblieben?» Doch bald sind Stahlketten erreicht, kurz darauf der Anlegeplatz für die Ski. «Schuhe eng zuschnallen!», ruft Wält vor der steilen Abfahrt. Der letzte Schwung geht am in jeder Hinsicht abenteuerlichen WC vorbei, rechts die Hängegletscher, links das gottverlassene Tal ins Valpelline, und vor uns Diego, der grinsend mit einem Tablett voller Grappa in der Tür der Aostahütte steht. Benvenuto!
Abseilen ins weisse Nichts: Das war es dann mit der vermeintlichen Komfort-Skitour. Die Neurologin im Team, die noch am ersten Tag davon sprach, dass ihr dank ihrer Forschungen zum Gleichgewicht «nie mehr schwindlig werde», schlenkert nervös mit den Armen. Es ist einer dieser Momente, in denen der Kopf dem Körper vorauseilt, sich in ein warmes Schnellrestaurant an der Autobahn wünscht, aber die Beine erst liefern müssen. Oder wie Chappaz schrieb: «Warum bin ich nicht in meinem Obstgarten geblieben?» Doch bald sind Stahlketten erreicht, kurz darauf der Anlegeplatz für die Ski. «Schuhe eng zuschnallen!», ruft Wält vor der steilen Abfahrt. Der letzte Schwung geht am in jeder Hinsicht abenteuerlichen WC vorbei, rechts die Hängegletscher, links das gottverlassene Tal ins Valpelline, und vor uns Diego, der grinsend mit einem Tablett voller Grappa in der Tür der Aostahütte steht. Benvenuto!
Bei Diego, dem Einsiedler
Seit drei Jahren ist Diego, ein ehemaliger Ziegenhirt, hier oben. Ab und zu gehen ihm die Eltern zur Hand, im Tal ist er nur, wenn keine Saison ist. Aus vergleichsweise bescheidenen Mitteln zaubert Diego Fantastisches: Milchkaffees, Espressi, Bier, vier riesige Teller mit Pasta, Pesto und frischem Parmesan. Abends Minestrone und Omelette. Schnee bedeutet Hunger! «Ein sehr guter Winter» sei es bisher, sagt Diego. «Bis heute waren 384 Personen da.» Zwölf Gasflaschen braucht er pro Jahr, Heizung inklusive. Sein Kontakt zur Aussenwelt ist ein Telefon mit Wählscheibe. Man denkt an Chappaz, der über die Hüttenwirte schrieb: «Wunderliche Knaben, nach Bock riechende Jungfern, die sich die entferntesten Einsiedeleien und Wallfahrtsorte aufsuchen.»
Es wird ein lustiger Abend, obwohl an ihm auch die Entscheidung fällt, nur auf die Schulter der Dent d’Hérens zu steigen. Schlechtwetter hat den Reservetag verzehrt, und den bräuchte es für eine Gipfelbesteigung samt Rückweg über den südseitigen Col de la Division, der vor 10 Uhr absolviert sein muss. Diego steht um 02:45 Uhr natürlich auch auf und braut uns auf der Bialetti einen Kaffee, der die Uhr ordentlich vordreht. Mit leichtem Rucksack geht es hinein in die Nacht, über uns die Milchstrasse, unter uns ein halber Meter Neuschnee. Als wir die Stirnlampen wegpacken, sagt Wält: «Abfellen. Zu gefährlich.»
Es wird ein lustiger Abend, obwohl an ihm auch die Entscheidung fällt, nur auf die Schulter der Dent d’Hérens zu steigen. Schlechtwetter hat den Reservetag verzehrt, und den bräuchte es für eine Gipfelbesteigung samt Rückweg über den südseitigen Col de la Division, der vor 10 Uhr absolviert sein muss. Diego steht um 02:45 Uhr natürlich auch auf und braut uns auf der Bialetti einen Kaffee, der die Uhr ordentlich vordreht. Mit leichtem Rucksack geht es hinein in die Nacht, über uns die Milchstrasse, unter uns ein halber Meter Neuschnee. Als wir die Stirnlampen wegpacken, sagt Wält: «Abfellen. Zu gefährlich.»
«Rechts die Hängegletscher, links das gottverlassene Tal ins Valpelline,
vor uns Diego mit einem Tablett voller Grappa.
Benvenuto!»
vor uns Diego mit einem Tablett voller Grappa.
Benvenuto!»
So bleibt die Dent d’Hérens bis auf Weiteres der «letzte Viertausender». Rückmarsch über den Col de la Division. Wir biegen wieder ein auf die klassische Haute Route, auf der die Pässe die Stars sind und nicht die Gipfel. Der Col de Valpelline etwa bewirbt sich bei Schönwetter nachdrücklich für einen Spitzenplatz unter den Schweizer Top-Panoramen: Auf einen Schlag baut sich das Matterhorn auf. Und obwohl die 1400 Meter hohe Westwand gute 5000 Meter entfernt ist, hofft man instinktiv, dass der Gipfel nicht umfällt.
Es bleibt ein sehr kurzer Aufstieg zur Tête Blanche und eine sehr lange, fast 2000 Höhenmeter überwindende Traumabfahrt hinab nach Ferpècle, vom Hochgebirge in die Maiwiesen, durch Pulverschnee, Spaltenwirrwarr und Kreativslalom von der vorletzten zur letzten Schneeinsel. Am Ende sind die T-Shirts salzverkrustet und der Kopf um eine Erkenntnis reicher: Chappaz hatte recht, wenn er am Ende seiner Haute Route schreibt: «Wir sind im Gras gelandet. Da sind wir denn, gebremst und verwirrt. (...) Meine Sehnsucht aber, die macht im Kopf rechtsumkehrt.» Ja, Schnee bedeutet Hunger. Hunger auf mehr … Schnee!
Es bleibt ein sehr kurzer Aufstieg zur Tête Blanche und eine sehr lange, fast 2000 Höhenmeter überwindende Traumabfahrt hinab nach Ferpècle, vom Hochgebirge in die Maiwiesen, durch Pulverschnee, Spaltenwirrwarr und Kreativslalom von der vorletzten zur letzten Schneeinsel. Am Ende sind die T-Shirts salzverkrustet und der Kopf um eine Erkenntnis reicher: Chappaz hatte recht, wenn er am Ende seiner Haute Route schreibt: «Wir sind im Gras gelandet. Da sind wir denn, gebremst und verwirrt. (...) Meine Sehnsucht aber, die macht im Kopf rechtsumkehrt.» Ja, Schnee bedeutet Hunger. Hunger auf mehr … Schnee!