Der Sentiero delle Orobie Orientale: Hüttenwanderung
Der Sentiero delle Orobie Orientale: Hüttenwanderung
 Datum: 07.07.2016  Text: Dieter Haas 

Raue Route – Hüttenwanderung zwischen Comer- und Gardasee

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Raue Route – Hüttenwanderung zwischen Comer- und Gardasee
Der Sentiero delle Orobie Orientale erlaubt, in das wilde Herz der ­Bergamasker Alpen vorzudringen. Eine abenteuerliche Tourenwoche durch Italiens verborgene Gebirgsschätze.
«Es gibt sie noch, die weissen Flecken auf der Landkarte», sagte Beppe und drückte mir das Buch in die Hand, damals im Piemont. Von einem «piccolo Tibet» schwärmen darin die Autoren Santino Calegari und Franco Radici, von unbekannten Tälern, die fast wie im letzten Jahrhundert geblieben sind. Auf dem «Dach» der Orobischen Alpen scheint ein kleines Tibet überlebt zu haben, schreiben sie euphorisch. Wir waren gerade am Ideen sammeln für die nächste Tour. Ein Trekking durch die italienische Südalpenseite sollte es sein. Auch wegen des guten Essens und der unübertrefflichen Gastfreundschaft. Weil Gerhard und Ulli nur im August Zeit gehabt hätten, schieden die Dolomiten oder die Comersee-Berge aus. Zu überlaufen. Genau dazwischen, im Hinterland von Bergamo, liegen die Orobischen Alpen, besser bekannt als Bergamasker Alpen, klärte uns Beppe auf. Die spätere Recherche bestätigte zumindest in der deutschsprachigen Literatur einen «weissen Fleck» auf der Landkarte. Die Neugier war angestachelt auf eine Gebirgskette im Hinterland der Stadt Bergamo, mit schroffen Gipfeln zwischen 2500 und 3000 Metern hoch, voller Kare und Klippen, Höhenterrassen und natürlichen Amphitheatern, in die sich Seen schmiegen. Mitten durch diese Welt schlängelt sich ein 75 Kilometer langer Pfad, der Sentiero delle Orobie Orientale. In weitem Bogen zieht er vom winzigen Bergdorf Valcanale im Westen bis zur gut 2500 Meter hohen Presolana im Osten. Die enge Gebirgsfaltung macht das Wandern auf ihm mitunter anstrengend. Einsam kann man sich fühlen zwischen den schroffen Flanken der Gipfel. Immerhin gibt es Stützpunkte in der Bergwildnis: Hütten, die oft kühn an Felsabbrüchen balancieren und von Idealisten betrieben werden, die ihr Glück in der Abgeschiedenheit gefunden haben. Der italienische Geografieprofessor Giuseppe Nangeroni aus Milano, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unermüdlich die «Alpi Orobie» erforschte, soll 200 Seen gezählt haben. Das verspricht ausgiebiges Baden, dachten wir. Doch es kam ganz anders.
Der Sentiero delle Orobie Orientale: Hüttenwanderung
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Schüttelfrost und Gaumenlust

«Warum ist es hier so kalt, wir sind doch in Italien», murrt Gerhard. Muss er sich ausgerechnet am Beginn der Tour eine Erkältung einfangen. Dabei hatten wir auf unserer ersten Etappe von Valcanale, einem Seitentälchen des Valle Seriana, eine echte Hitzewelle. Halbbekleidete «belle figure» liessen den schweisstreibenden Aufstieg zum Passo dei Laghi Gemelli fast vergessen. Jetzt, auf der Terrasse der Gemelli-Hütte im oberen Valle Brembana, sorgt ein fröstelnder Wind für Ungemütlichkeit. Das italienische Wandervolk hat sich längst in die warme Stube verzogen. Der Grund, warum die Hütte so gut besucht ist, klärt sich um «sette mezza», der magischen Zeit des Abendessens, auf die sich ganz Italien geeinigt zu haben scheint. Der Wirt heisst Maurizio Nava, ein Kerl so rau wie sein Heimatgebirge. Sein rotwangiger Kompagnon Stefano Brignoli repräsentiert das andere Gesicht der Bergamasker Alpen: das des Genusses. Der leidenschaftliche Koch offenbart seine Passion schon mit seinen treffsicheren Weinempfehlungen. Jetzt, um «sette mezza», schlägt die Stunde von Stefano. Sein Risotto mit Heidelbeeren, die rund um die Hütte wachsen, ist ein Gedicht. Wilden Spinat geht Stefano gerne sammeln, um damit seine Nudel-Käse-Kreationen zu bereichern. Bierliebhaber werden von seinem «Maiale alla birra» begeistert sein. Die Stube ist so gut platziert, dass zur Schlemmerei noch ein Sonnenuntergang geboten wird, als seien die Fenster mit kitschiger Fototapete beklebt. Ein famoser Auftakt für den Sentiero delle Orobie Orientale, der sich auf sieben Etappen durch die östlichen Bergamasker Alpen zieht. Wäre da nicht ein Wetterwechsel spürbar. Und würde nicht Gerhards Nase laufen, als ginge es schon um die nächste Etappe.
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Die tragische Geschichte der Laghi Gemelli

Rund um die Hütte liegt eine ganze Ansammlung von Stauseen. ENEL hat sich das wasserreiche Gebirge zunutze gemacht. Auf den Energiekonzern geht auch der Bau des heutigen Rifugio Gemelli zurück, so Stefano. Das Vorgängermodell wurde im Zweiten Weltkrieg von den Faschisten dem Erdboden gleichgemacht, war hier doch ein wichtiger Stützpunkt der Widerstandskämpfer. Reste der alten Grundmauern erinnern daran. Später, bei einem Absacker, hat Stefano auch Zeit, uns die berühmte Legende der Laghi Gemelli zu erzählen. Der Entstehung der Zwillingsseen liege einer tragischen Liebesgeschichte zugrunde – der leidenschaftlichen Zuneigung zwischen der Tochter eines wohlhabenden Landbesitzers von Branzi, dem Dorf im Talgrund, und einem Hirten, der hier auf den Hochweiden mit seinen Schafen und Ziegen den Sommer verbrachte. Die Familie drohte dem Liebhaber mit dem Tod, denn das Mädchen war bereits einem reichen Schmied versprochen. In Erwartung der Hochzeit verweigerte die unglückliche Braut jede Nahrung, wurde kränker und kränker. Der Vater konsultierte sämtliche Ärzte der Umgebung. Doch niemand konnte helfen. Als dem Hirten dies zu Ohren kam, verschaffte er sich als verkleideter Arzt den Zutritt zum Krankenbett. Das Mädchen genas und die beiden beschlossen zu fliehen. Was die Familie schnell entdeckte und man ihnen auf den Fersen war. Die Gejagten schafften es bis zu den Hängen des Farno, dann rutschte das Mädchen aus. Der Hirte trug die Bewusstlose im Arm weiter. Doch müde und erschöpft verlor er die Orientierung und an einer Felsklippe das Gleichgewicht. Beide stürzten in die Tiefe. Dort, wo ihre Körper aufschlugen, öffneten sich zwei Becken und füllten sich mit glasklarem Wasser: die Laghi Gemelli. Im Jahr 1932 verschmolzen die Seen miteinander, wenn auch auf recht unpoetische Weise: Eine gewaltige Bogenmauer staut den an die sieben Millionen Kubikmeter Wasser fassenden Pool.
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Seensüchtig

Die Gemelli-Hütte ist noch recht gut besucht. Danach taucht man ab. Auf der zweiten Etappe lässt der Sentiero Orobie die Wahl zwischen einer leichten und einer alpinen Route. Beide führen in die Einsamkeit. Mehr Dramatik entfaltet die alpine Variante. Wir wählen sie auch deshalb, weil uns die Seen locken. Fast ein Dutzend davon liegen an der Route, verrät die Karte. Der Lago Colombo, den wir gleich nach dem Gemelli-Stausee passieren, glitzert verführerisch, verlockt zum Bad, wäre es nur nicht so kalt. Ein raues Auf und Ab beansprucht uns. Gerhard hält tapfer mit. Ein tief eingegrabener Seekessel folgt dem nächsten. Besonders schön präsentiert sich der Lago Cernello. Grünblau leuchtet er aus einem spektakulären Felsentrichter heraus. Eine Herde halbwilder Haflinger grast am Ufersaum. Im Vordergrund des Sees lässt sich in einer urigen Baita einkehren. Eine warme Minestrone und ein geschmacksintensiver Espresso geben Energie für den kräftigen Anstieg gen Monte Madonnino. Schutthalden lösen Kräuterwiesen ab, Murmeltierpfiffe hallen von den Felsen wider, Nebelfetzen umspinnen die Gipfel. Ständig ändert sich die Landschaft. Oben am Pass poltert plötzlich Steinschlag. Aus dem Nebel tauchen zwei wuchtige Hörner auf. Wie Gespenster lösen sich weitere Steinböcke aus dem Nichts.

Gerade noch rechtzeitig vor einem ­Regenguss erreichen wir das Rifugio Calvi. Porträts der vier Calvi-Brüder ­zieren die Wand der holzverkleideten Stube. Wagemutige Kletterer, Pioniere der Orobischen Alpen, die den Ersten Weltkrieg jedoch nicht überlebten. Unter der Hütte bettet sich verwunschen der Lago Rotondo. Wir passieren ihn anderntags bei bombigem Wetter. Himmel und Berge spiegeln sich in dem Juwel. Kaskaden rauschen am Wegesrand, in dem verträumten Hochtal unter den schroffen Wänden des Pizzo Diavolo blöken Schafe. Arnika tupfen am Valsecca-Pass wie kleine Sonnen Farbe in den Schutthang. Der Übergang offeriert einen imposanten Blick über stark zerklüftetes Gelände zu den höchsten Gipfeln der Orobischen Alpen. Von einem Felssporn unter uns leuchtet die rote Biwakschachtel des Bivacco Frattani. Ein guter Picknickplatz auf dem Weg zum Rifugio Brunone. Kraft tanken, denn dazwischen liegt ein Steilabstieg ins Valle di Salto, von wo man die verlorenen Höhenmeter dann wieder einsammeln darf.

Circo dei Giganti – Zirkus der Riesen

Das Rifugio Brunone thront auf einer kleinen Terrasse in den Steilflanken über dem wilden Talschluss des Valle Seriana. «Un posto unico», nennt Marco Brignoli sein Rifugio, einen einmaligen Platz – wild, einsam, archaisch. Im Jahr 2007 erfüllte er sich einen Traum und wurde dort Hüttenwirt. Von allen Refugi der Gebirgskette ist sie am schwersten zu erreichen. Dennoch nehmen Marco und seine Helfer die Mühe auf sich, jeden Dienstag zum Markt nach Valbondione abzusteigen, um Frischwaren einzukaufen. Glücklich derjenige Gast, der am Mittwoch, Donnerstag oder Freitag kommt und knackigen Salat und Gemüse verspeisen darf. Doch die Zutaten für seine Hausspezialität sind stets vorhanden: Salsicce e Fagioli, lokale Würstchen und Bohnen mit Polenta. Vor der Tür spielen die Wolken Theater, fegt der Wind auch schon mal einen Graupelschauer herbei. Ungerührt dreht der Goldfisch im kugeligen Glas am Fenster seine Runden. Ein Fernglas steht daneben. Das schnappt sich Marco jetzt, um uns die Route zu zeigen. «Seht ihr die Rinne? Dort geht’s hinauf zur alpinen Variante. Ein paar Abschnitte sind mit Ketten und Tritten gesichert. Das schafft ihr locker.» Doch angesichts des Wetters zögern wir. Es gäbe auch noch einen tiefer gelegenen Weg. Marco winkt ab. Viel zu mühsam, da müsse man zu viel ab- und aufsteigen.

Ein blitzblauer Morgen stimmt uns dann doch um. Die traumhafte Klarheit, der Blick reichte bis weit in die Ebene, sollte leider nicht lange Bestand halten. Bei Kälte gestaltet sich die Route mitunter etwas heikel. Dann macht nicht nur der rutschige Schotter in den Steilrinnen zu schaffen, sondern auch der Fels, den die Feuchtigkeit mit einer dünnen Eisschicht verpackt. Wir schuften uns in die Höhe, sind so beschäftigt, dass wir den Einzug der Wolken gar nicht bemerken. Am Simal, dem höchsten Punkt der Etappe, von wo der Blick traumhaft wäre, stehen wir im Einheitsgrau. Jetzt geht es nur noch abwärts, freut sich Gerhard. Von wegen. Der eigentliche Kletterpart fängt erst an. Erst ein Couloir hinunter, durch ein steiniges Tal und dann auf einen Felssporn. Der Beginn eines leichten Klettersteigs. Nieselregen setzt ein, was dem Spass an der Route aber keinen Abbruch tut. Spektakulär zieht die Ferrata durch die grandiosen Felsfluchten des Valle di Coca.
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«Circo dei Giganti» – Zirkus der Riesen – sagen die Einheimischen, weil sich hier die drei höchsten Gipfel, der Pizzo di Redorta (3038 m), die Punta di Scais (3038 m) und der Pizzo di Coca (3050 m) ein Stelldichein geben. Unter den Sohlen taucht das Rifugio Coca auf. Luftlinie wäre es ein Katzensprung dorthin. Doch es wird noch eine Weile dauern, das Etappenziel zu erreichen. Das Wetter unterbindet jede Form von Picknick. Energieriegel helfen über das Hungergefühl hinweg. Tiefblau und glasklar begeistert der Lago di Coca im Talschluss. Wie gerne hätten wir darin gebadet. Doch weiter, im Schnellgang durch das Hochtal-Idyll zum Rifugio Coca, um sich aus den klebenden Klamotten zu lösen, aufzuwärmen. Auch diese Hütte balanciert wie ein Adlerhorst über Schluchten. Jetzt jagen Nebelfetzen hindurch.

Und der nächste Tag sieht nicht besser aus. Balanceakt durch Felsfluchten. Wir haben mittlerweile Routine. Im Rifugio Curò schalten wir einen Pausentag ein. Dauerregen wäre für die bevorstehende längste Etappe der Route keine schöne Begleitung. Doch das Wetter soll besser werden. Also sitzen wir es aus. Am prasselnden Kamin, bei Rotwein und lokalen Bergkäsespezialitäten – eine nicht gerade unangenehme Sache. Das alte Rifugio nebenan sei kürzlich umgebaut worden zur höchsten Jugendherberge Europas, erzählt uns Hüttenwirt Fabio. Er zeigt uns stolz die geschmackvollen Räumlichkeiten. Panoramafenster erlauben einen herrlichen Blick über das Valle Seriana. Rechterhand stürzt die Cascate del Serio zu Tale – mit 315 Metern Fallhöhe der längste Wasserfall Italiens. Gegen Abend reisst endlich der Himmel auf. Sonnenstrahlen lassen den Lago Barbellino glitzern. Das reizt fast alle Hausgäste zu einem kleinen Bummel in Hüttenlatschen auf dem breiten Uferweg über dem Stausee.

La Regina delle Orobie – Die Königin der Bergamasker

Acht reine Marschstunden sind für die Etappe zum Rifugio Albani angegeben. Wir starten besser ganz früh. Wer weiss, welche Überraschungen die Route bereithält. Und tatsächlich, die erste Partie ins Nachbartal hätte eine Machete vertragen. Gebüschkrallerei, die endlich am Passo della Manina ein Ende findet. Die Fortsetzung dafür ein Landschaftstraum. Zwischen Steilstufen Karsthochflächen, die in der Sonne wie Schnee blenden und mit skurrilen Auswaschungen begeistern. Der beeindruckende Kalkstock der Presolana, la Regina delle Orobie, die Königin der Bergamasker, rückt ins Blickfeld, und über dem Valle di Scalve bäumt sich die Gletscherwelt des Adamello. Die Stunden verrinnen schneller, als uns lieb ist. Man kommt nur langsam vorwärts, weil der karstige Fels mit seinen Löchern und Rinnen doch viel Achtsamkeit erfordert. Erst zu später Stunde erreichen wir das Rifugio Albani, gerade noch rechtzeitig zum Abendessen. Formaggio alla Piastra, die dicke Scheibe gebratener Bergkäse zur Polenta könnte köstlicher nicht sein. Ebenso das Ratatouille aus frischem Gemüse. Eine Allradzufahrt erleichtert dem Hüttenwirt, an Frischkost heranzukommen. Gleich neben dem Rifugio baut sich die gewaltige Nordwand der Presolana auf. Luigi Albani, sein Kumpan Luigi Pellegrini und der Führer Manfredo Bendotti durchstiegen sie als Erste am 18. August 1899, verrät das Hüttenbuch. Luigi Albani, Ingenieur, Alpinist und Pionier des Gebiets, war zu jener Zeit Präsident des CAI Bergamo. So fiel ihm die Ehre als Namensgeber des Stützpunktes zu. Einst ein einfacher Verschlag der Minenarbeiter, 1896 von der Gesellschaft erbaut, die hier die Konzession zum Abbau von Fluorit hatte. Irgendwann rentierte sich das nicht mehr, und das Haus ging in den Besitz des Alpenvereins über.
Der Sentiero delle Orobie Orientale: Hüttenwanderung
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Auch der letzte Tag bietet Dolomiten-Ambiente – und auch er hat es in sich: Es steht die Überschreitung der Presolana über den Monte Visolo an, auf einem Klettersteig. Der Einstieg ist leicht zu übersehen, weil ein Trampelpfad verleitet, weiterzugehen. Fast hätten wir die Farbschrift am Fels nicht bemerkt. Wen die Höhe schwindlig macht, der sollte den Kalkstock lieber westseitig umgehen, denn es geht luftig zu auf der Ferrata.

Eine senkrechte Leiterpartie macht den Auftakt, dann nutzt die Route geschickt Felsbänder aus. Unter den Sohlen fällt der Blick Hunderte von Metern fast senkrecht ins Tal. Ein Stein taumelt in die Tiefe. Der etwas düstere Himmel erhöht den Adrenalinspiegel. Aber der Wetterdienst meldete keine Gewitter. Plötzlich bauen sich vor uns die Quattro Matte auf, die vier versteinerten Verrückten. Einst Schwestern, die in den Wald gingen, um Holz zu holen, hatte uns der Hüttenwirt über die Legende erzählt. Im Wald trafen ­Erica, Gardenia, Genzianella und Rosina auf Zwerge, mit denen sie ihre kargen Essensvorräte teilten und versprachen wiederzukommen. Doch die vier hielten ihr Versprechen nicht ein und die Zwerge begannen zu singen. Ein magischer Gesang, der die Geschwister verrückt (italienisch: matto) machte – sie erstarrten zu Stein. Die Presolana ist fürwahr ein Ort, wo die Fantasie mit einem durchgehen kann. So mancher Felsendom zeigt sich als Fabelwesen. Am Himmel zieht ein Adler seine Bahnen, sein Schrei zerreisst die Stille. Fast könnte man meinen, er will die Bergamasker Alpen aus dem Dornröschenschlaf wecken.
Trekking Sentiero delle Orobie
ANREISE
Mit dem Auto nach Bergamo oder zum Lago d’Iseo, dann weiter ins Valle Seriana und bei Ardesio westlich nach Valcanale, 987 m. Mit dem Zug bis Bergamo. Von dort per Bus über Clusone nach Valcanale. Achtung: Fahrscheine in Italien werden nicht im Bus, sondern am Kiosk, Schalter oder in der Bar verkauft.
Vom Endpunkt Cantoniera della Presolana mit dem Bus über Clusona nach Valcanale oder zum Bahnhof Bergamo.

KARTE
Kompass Karte Nr. 104, 1:50’000, Alpi Orobie Bergamasche, 8,99 Euro.

LITERATUR
Im Wanderführer «Hüttentrekking Ostalpen» von Ralf Gantzhorn ist der Trek ausführlich beschrieben, Bergverlag Rother, 24,90 Euro.

INFOS
Informationen zu Etappen und Unterkünften finden sich auf www.sentierodelleorobie.it. Außerdem können die Seiten www.valseriana.eu und www.turismo.bergamo.it hilfreich sein. Alles leider nur auf italienisch. Gegenüber dem Bahnhof von Bergamo befindet sich eine Tourist-Information (kompetent und deutschsprachig).

UNTERKÜNFTE

In Ardesio
Wer ein authentisches Dorfhotel mit guter Küche sucht, ist im Albergo Bigoni genau richtig, www.albergoristorantebigoni.it. Als Aperitif-Stopp lohnt sich der Besuch der benachbarten Bar mit grosser Terrasse des Hotels Ardesio. Im bescheidenen Getränkepreis inbegriffen: Snacks, die fast ein Abendessen ersetzen.

Hütten entlang des Treks
Rifugio Laghi Gemelli,rifugiolaghigemelli.it
Rifugio Fratelli Calvi, Tel. +39 0345 77047
Rifugio Baroni al Brunone, Tel. +39 0346 41235
Rifugio Coca,rifugiococa.it
Rifugio Antonio Curò,antoniocuro.it
Ostello al Curò,ostelloalcuro.it
Rifugio Luigi Albani,rifugioalbani.com

Anforderungen
Der Trek führt durch eine wilde, raue Landschaft. Exponierte Stellen und Schuttpassagen gehören zum Alltag. Absolute Trittsicherheit und Schwindelfreiheit sind Voraussetzung. Die Klettersteigpassagen können von routinierten Berggängern auch ohne Klettersteigausrüstung begangen werden.

Dusche gefällig
Im Talschluss des Valle Seriana, unterhalb des Rifugio Curò, lockt die Cascate del Serio zu einer Extra-Runde. Der längste Wasserfall Italiens teilt seine Fallhöhe von 315 Metern in drei Stufen auf: 166 Meter, 74 Meter und 75 Meter. In seiner ganzen Macht zeigt er sich nur, wenn das Wasserkraftwerk die Schleusen öffnet. Termine 2016: 19.6. 11-11.30 Uhr, 16.7. 22-22-30 Uhr (mit Beleuchtung in Szene gesetzt), 21.8. 11-11.30 Uhr, 18.9. 11-11.30 Uhr, 9.10. 11-11.30 Uhr.

Auf dem Sentiero delle Orobie Orientale
1 Valcanale – Rifugio Gemelli, 1961 m
4 h, +1150 Hm, -170 Hm
Eine angenehme Eingehetappe trotz des kräftigen Anstiegs. Unterwegs bietet sich eine Einkehr auf der Alpe Corte an. Am Passo dei Laghi Gemelli öffnet sich ein schöner Seeblick.

2 Rifugio Gemelli – Rifugio Calvi, 2015 m
Leichte Route: 4 Std., +460 Hm, -410 Hm
Alpine Route: 6 Std., +750 Hm, -700 Hm
Die zweite Etappe gibt es in zwei Varianten. Fünf Seen liegen an der leichten Route, acht Seen an der alpinen Route, die auch mehr Ausblicke sowie eine Einkehrmöglichkeit bietet. Am Weg lohnt der Abstecher auf den Pizzo del Becco, 2507 m (vom Rifugio Gemelli 2 h, leichter Klettersteig).

3 Rifugio Calvi – Rifugio Brunone, 2295 m
6 h, +870 Hm, -590 Hm
Anstrengende Etappe aufgrund von Schutthalden und ordentlichem Gegenanstieg. Der Gipfelabstecher zum Pizzo del Diavolo ist routinierten Berggängern vorbehalten.

4 Rifugio Brunone – Rifugio Coca, 1892 m
6 h, +420 Hm, -820 Hm
Die wildeste Etappe des Sentiero delle Orobie lässt die Wahl zwischen alpiner und moderater Route (Höhenmeter ähnlich wie Alpinroute). Höchster Punkt der alpinen Route ist der Sattel Simal, 2712 m. Von dort muss ein heikles, teils mit Ketten gesichertes Couloir abgestiegen werden. Beste Trittsicherheit und Schwindelfreiheit benötigt auch der Klettersteig durch die Felsfluchten des Valle di Coca.

5 Rifugio Coca – Rifugio Curò, 1895 m
4 h, +530Hm, -530 Hm
Schmaler Hangpfad mit zahlreichen Aufs und Abs und imposanten Tiefblicken. Bei Bergsteigern begehrt ist der Pizzo di Coca, der höchste Spitz der Bergamasker Alpen (vom Rifugio Coca 3.30 h und Kletterei im II.Grad)

6 Rifugio Curò – Rifugio Albani, 1939 m
8 h, +1010 Hm, -960 Hm
Lange Etappe, früher Start empfehlenswert. Die erste Partie ist etwas mühsam, da der Pfad abschnittsweise immer wieder zuzuwachsen droht. Ab dem Passo della Manina Landschaftsgenuss und Weitblicke in Karsthochflächen.

7 Rifugio Albani – Cantoniera della Presolana, 1297 m
5.30 h, +430 Hm, -1070 Hm
Die Überschreitung der Presolana ist ein prächtiges Finale. Der Gipfel des Monte Visolo (2369 m ) wird dabei mitgenommen. Wer sich den leichten, aber exponierten Klettersteig durch die Presolana nicht zutraut, kann den Kalkstock auf normalem Wanderweg westseitig umgehen.