Graubünden ist ein Mekka für Freunde alpiner Singletrails. Was gerne einmal den Blick auf das riesige Netz aus geschotterten Alpstrassen vor Ort verstellt. Denn tatsächlich findet sich in Graubünden auch ein schier unerschöpflicher Spielplatz zum Gravelbiken, was unsere viertägige Bikepacking-Etappentour «Trans Grischun» durch den Kanton beweist.
Die Landschaft zieht wie in Zeitlupe vorbei. Längst habe ich den zähen Anstieg zum Pass da Costainas in Zwischenziele unterteilt, hangle mich von einer Arve zur nächsten Kehre. «Eins, zwei, eins, zwei», gebe ich mir meinen Trittrhythmus vor. Doch diesen einzuhalten, fällt schwer – die Oberschenkel brennen von den Strapazen der vergangenen drei Tage. Und dass sich die schmalen Reifen meines Gravelbikes abwechselnd durch schmierigen Untergrund fräsen oder an Steinen abzurutschen drohen, macht den Anstieg nicht leichter. Die letzten 30 Höhenmeter ziehen sich gefühlt unendlich in die Länge.
Nico, ein erfahrener Bikepacker aus dem Oberengadin und mein Begleiter auf dieser viertägigen Etappentour durch Graubünden, erwartet mich bereits seit längerer Zeit oben an der 2251 Meter hohen Passhöhe. Der Pass da Costainas verbindet das Unterengadin mit dem Val Müstair. Er markiert zugleich den höchsten Punkt und die finale Anstrengung unseres Graubündener Bikepacking-Abenteuers. «Los, das schaffst du», motiviert Nico mich lautstark dazu, meine letzten Kraftreserven zu aktivieren. Und das erfolgreich: Als ich völlig ausser Atem, doch ohne abgestiegen zu sein, auf der Passhöhe ankomme, stellt sich ein grosses Glücksgefühl ein. Deswegen liebe ich das Gravelbiken: Diese Bikes kombinieren, wenn auch in jeweils abgespeckter Form, das Beste aus zwei Welten. Hier trifft die Spritzigkeit eines Rennrads auf die Geländegängigkeit eines Mountainbikes. Was ideale Voraussetzungen schafft, um das Home of Trails Graubünden auf einer langen Etappentour zu erkunden. Die Trans Grischun führt uns auf vier Tagesetappen mit 190 Kilometern und 5400 Höhenmetern einmal quer durch den flächenmässig grössten und zugleich am dünnsten besiedelten Kanton der Schweiz. Der Name der Tour erschliesst auch deren verbindendes Element. «Grischun» bedeutet Graubünden auf Rätoromanisch, eine der vier Amtssprachen der Schweiz.
Nichts für schwache Arme: Schon bei der ersten Abfahrt kommt auf den schottrigen und holprigen Trails typisches Gravelfeeling auf.
Velofreundliche Schweiz: Den industriell geprägten Teil zwischen Chur und Lavin überbrücken wir unkompliziert mit der Rhätischen Bahn.
Respekt auf den Trails
Ein rätoromanisches Wort habe ich auf meiner Tour schon gelernt: «Resguard» bedeutet so viel wie «Rücksicht» und steht immer wieder auf Schildern am Wegesrand zu lesen. Darunter sind ein Radfahrer und ein Wanderer abgebildet. Auf Graubündner Trails gilt das Prinzip der Trailtoleranz. Das Biken ist generell erlaubt, und niemand stört sich daran, da alle Wegnutzer Rücksicht aufeinander nehmen.
Generell spielt Graubünden in Sachen Velofreundlichkeit in einer eigenen Liga. Die Beschilderung ist sehr gut, die Wege sind in einem top Zustand, die Anbindung an die öffentlichen Verkehrsmittel ist vorbildlich. Zugleich bietet der Kanton ideale Voraussetzungen für eine längere Etappentour: Neben zahlreichen Einkehrmöglichkeiten finden sich überall kleine Selbstbedienungsläden bei Bauernhöfen, in denen sich Käse, Brot, Fleisch und Eis nachkaufen lassen. Eigenen, schweren Proviant mitzuführen, ist daher verzichtbar. Unser Gepäck besteht daher konsequenterweise nur aus Wechselsachen für den Abend und unseren Hygieneartikeln. Nach dem anstrengenden Anstieg zur letzten Passhöhe gönne ich mir eine Pause, lege mich neben mein Bike in die Alpwiese und lasse die vergangenen drei Tage Revue passieren.
Start am Oberalppass
Leicht sorgenvoll hieven wir unsere Gravelbikes aus der Rhätischen Bahn. Für den Vormittag sind Gewitter angesagt, über dem Stausee und den grasbewachsenen Hängen am Oberalppass türmen sich Wolken auf. Nico und ich zurren die Radtaschen fest, streifen Regenjacken über und rollen langsam Richtung Sedrun los. Die Strecke führt uns zunächst über die asphaltierte Strasse. Dann biegen wir in die alte Passstrasse ein, wo wir den ersten Schotter unter unseren Reifen spüren. Zum Glück scheint das Wetter zu halten. Denn bald schon verjüngt sich der Fahrweg zu einem Singletrail, den Mountainbiker sicher als «flowig» bezeichnen würden – der uns mit unseren ungefederten Gravelbikes aber aufs Äusserste fordert. Doch bald schon ist diese erste Herausforderung bewältigt. Entlang der Rhein-Route fahren wir in einem stetigen Auf und Ab bis nach Obersaxen, von wo wir uns auf Naturwegen bis auf die Alp Nova auf 2077 m ü. M. hocharbeiten. Für die Aussicht in die Val Lumnezia gibt’s eine Zehn von zehn.
Für eine Pause halten wir in der Bündner Rigi, einem Künstler-Café auf 1618 m ü. M. an der Ostflanke des Piz Mundaun. Küchenchef Stefan lädt uns ein, mit ihm eine Nidelzone zuzubereiten, ein traditionelles Gericht aus Rahm, Mehl, Ei und Salz. Damit stärkten sich früher die Bauern auf den Alpen, um den harten Bedingungen standzuhalten. Gerade richtig für uns müden Radfahrer. Nach 30 Minuten konstantem Rühren ist das Essen fertig. Stefan zieht Handschuhe an und nimmt den gusseisernen Topf aus der Hängevorrichtung über dem Feuer. Ich tunke mein Brot in die Masse und bin nach drei Happen satt. Von der Terrasse blicken wir auf das Rheintal und die Val Lumnezia mit ihren sanften Hügeln. Dahinter baut sich das Flimser Alpenpanorama auf. Mit den letzten Sonnenstrahlen rollen wir hinunter nach Ilanz, wo wir die Nacht verbringen.
Immer wieder führt uns die Route durch dichte Wälder, und entlang wilder Flussläufe.
König des Safientals
Am nächsten Morgen starten wir früh. Quellen und Brunnen gibt es auf unserer Strecke überall am Wegesrand. In Valendas erwartet uns ein besonderes Modell, der älteste Holzbrunnen Europas. Als ich gerade meine Trinkflasche mit Wasser auffülle, knattert ein orangefarbenes «Töffli» die Strasse entlang und hält neben uns. Der Fahrer, ein junger Mann, stellt sich als Jan vor, dem selbst erklärten «König des Safientals». Jans Helm sitzt schief, darunter trägt er einen Fischerhut und Kopfhörer. Jan zündet sich eine selbst gedrehte Zigarette an. In Trin, etwa 25 Minuten entfernt von Valendas, betreibt er das alte Bahnhofsrestaurant am Vorderrhein, mit Biergarten im Schatten von Nussbäumen. Das Restaurant befindet sich ganz in der Nähe der Hängebrücke Punt Ruinaulta, die die einzigartige Rheinschlucht überspannt. Realisierbar, so heisst sein Restaurant, eine Anspielung auch auf sein eigenes Leben. Seine wahre Erfüllung, sagt er, habe er nach einer schwierigen Kindheit in der Natur seiner Heimat gefunden, dem Safiental im Naturpark Beverin.
Als wir eine Stunde und zahllose Serpentinen später den Aussichtspunkt Spitg in Bonaduz erreichen, erhaschen wir aus der Vogelperspektive einen vagen Blick auf Jans Realisierbar. Mit etwas Mühe haben wir unsere Räder über einen bröckligen Pfad hochgewuchtet und stehen nun auf einer felsigen Plattform mit einer Holzbank im Schatten einer grossen Kiefer. Auf der anderen Flussseite schlängelt sich die Rhätische Bahn klein wie Spielzeug am Ufer entlang und verschwindet immer wieder in Tunnels.
Auf der perfekten Gravelstrasse von Obersaxen in die Val Lumnezia über die Alp Stavonas treffen liebliche Alpwiesen auf ein gewaltiges Alpenpanorama.
Tag vier startet mystisch mit Morgentau am Wegesrand. Neben uns rauscht der Bach Clemgia vorbei, hinter uns baut sich die Schweizer Bergwelt auf.
Fluss in Reinkultur
Der Vorderrhein entspringt auf etwa 3000 Metern Höhe am Tomasee und bahnt sich in der Surselva seinen Weg durch eine bis zu 400 Meter tiefe und 13 Kilometer lange Kalkschlucht. Später vereint er sich mit dem Hinterrhein und wächst zum Rhein, einem der grössten Flüsse Europas zusammen. Wer den Rhein, so wie ich, nur in seiner begradigten Form aus Deutschland kennt, wundert sich über so viel Wildheit und Natürlichkeit.
Die industriell geprägte Strecke durch die Talsohle des Rheintales von Chur, der Hauptstadt Graubündens, bis nach Lavin im Unterengadin legen wir gemütlich in der Rhätischen Bahn zurück. Als wir den Zug auf 1400 Metern Höhe verlassen, zirpen die Grillen, und es weht ein warmer Wind. Der Weiterweg zu unserem Etappenziel in Scuol führt oberhalb der Hauptstrasse auf einem feinschottrigen Weg dahin. Unter uns fliesst der helltürkisfarbene Inn. Als wir in den kleinen Ort Guarda mit seinen gerade einmal 160 Einwohnern einrollen, stechen sofort die bunten Malereien an den Häusern ins Auge. Am Wegesrand sitzt ein Mann und bringt in Handarbeit mit seinem Pinsel Ornamente und Verzierungen an die alten Hausfassaden an. Die Kunst des «Sgraffito», der traditionellen Stucktechnik der Region, beherrschen nur noch wenige.
Nach einer gemütlichen Nacht in einer der «Geopod» getauften Mietunterkünfte auf dem Campingplatz in Scuol steht die letzte Etappe der Trans Grischun an. Wer noch Saft in den Beinen hat, beginnt schon in Scuol mit der Tour. Alle anderen nehmen das Postauto inklusive Velotransport bis nach S-charl, dem letzten Ort vor dem Pass da Costainas. Dort beginnt der Anstieg zu einem der Highlights dieser Tour. An den Lärchen glitzert der Morgentau, der Bach Clemgia rauscht tosend in seinem felsigen Bett.
Der Anstieg auf dem Schotterweg durch das Val S-charl ist stetig und nie so steil, dass er überfordert. Am Wegesrand wachsen Margeriten und lilafarbener Mohn. Kurz nach dem Bergdorf S-charl wandelt sich die Szenerie und auf der linken Talseite erstreckt sich der grösste zusammenhängende Arvenwald Europas. Der Anblick des God da Tamangur mit seinen knorrigen Nadelbäumen ist überwältigend. Just in dem Moment, in dem ich stehenbleibe, um Fotos zu schiessen, scheint die Sonne durch die dunkelgrauen Wolken und taucht alles in ein warmes Licht. Von hier aus kann ich am Ende des Tals auch unser Pausenziel sehen, die Alp Astras.
Auf dem schmalen Forstweg hinunter nach Disentis fühlt man sich wie im Urwald. Die Sonne bahnt sich ihren Weg durch den dichten Mischwald. Endlich fühlt es sich nach Sommer an.
Sennerin von Herzen
Nach einem letzten, knackigen Anstieg erreichen wir die Alp. Begrüsst werden wir von Verena und ihrem Hirtenhund. Die junge Sennerin trägt Perlenohrringe und hält eine Sense in der Hand. Jeden Morgen steht sie kurz vor vier Uhr auf, um die Kühe von den Hängen zu holen und sie zu melken. Mittags hat sie Pause. Den dritten Sommer mache sie das schon. «Ich geniesse es, keinen Handyempfang zu haben und nur im Moment zu leben», sagt sie. Wir trinken einen Tee und ziehen weiter. Von der Alp bis zum Pass da Costainas folgen wir einem märchenhaften Trail. Bis ich auf der Wiese liege.
Nico tippt an meine Schulter. «Lass uns weiterfahren», sagt er. Ich schrecke aus meinem Tagtraum hoch. Noch etwas benommen schnappe ich mein Gravelbike und trete los. Ab jetzt geht es fast nur noch bergab, zunächst bis zum Talort Tschierv und dann weiter zum Endpunkt unserer Tour in Sta. Maria im Val Müstair. War kurz vorher noch Trittkraft gefragt, braucht es nun Fahrtechnik.
Auf den von Wasser ausgespülten, grob schottrigen und teils mit grossen Steinen versetzten Trails ist alpines Graveln angesagt. Nico braust in einem rasanten Tempo voran. Ich bin weniger geübt und habe mit den steilen Passagen zu kämpfen. An zwei Stellen schiebe ich mein Bike. Das finde ich aber gar nicht schlimm. Für mich bedeutet Gravelbiken an erster Stelle Genussbiken. Und Gravelgenuss gibt es in Graubünden wahrlich genug.
Gravelbiketour Trans Grischun
Charakter
Von hochalpin bis lieblich: Auf der Trans Grischun durchquert man Graubünden vom Oberalppass in der Surselva über Chur bis nach Sta. Maria im Val Müstair und erlebt den grössten Kanton der Schweiz in all seinen Facetten. Die Strecken erweisen sich als graveltauglich, meistens fährt man auf Schotterwegen. Nur auf der letzten Etappe wartet eine technische Abfahrt auf Trailliebhaber. 5400 Höhenmeter in vier Tagen sind herausfordernd, aber die atemberaubenden Schweizer Panoramen entschädigen für jeden Meter.
anreise
Graubünden erreicht man hervorragend mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Die Rhätische Bahn ermöglicht die Anreise zum Oberalppass. Ein Postauto inklusive Radtransport bringt einen am Ende der Tour entweder zum zwischengeparkten Auto oder zum nächsten Bahnhof.
1. Etappe: Oberalppass – Sedrun – Disentis – Trun – Obersaxen
Distanz: 55 km
Höhendifferenz: Uphill 1760 m
2. Etappe: Obersaxen – Alp Nova – Vella – Ilanz – Castrisch
Distanz: 40 km
Höhendifferenz: Uphill 1200 m
3. Etappe: Castrisch – Brün – Reichenau – Chur
Chur – Lavin (Transfer mit der Rhätischen Bahn)
Lavin – Guarda – Ftan – Scuol
Distanz: 66 km
Höhendifferenz: Uphill 1400 m
4. Etappe: Scuol – Pass da Costainas – Sta. Maria
Distanz: 40 km
Höhendifferenz: Uphill 1100 m
Übernachten entlang der Trans Grischun
Die Trans Grischun führt in regelmässigen Abständen durch bewohnte Gebiete, sodass man immer wieder Übernachtungsmöglichkeiten findet und die Etappen auf seine Bedürfnisse anpassen kann.
• Hotel Central in Obersaxen: www.central-obersaxen.ch
• Ustria Mundaun in Castrisch: ustria-mundaun.ch
• TCS Camping Scuol (Übernachtung im Geopod): www.engadin.com/de/tcs-camping-scuol
Zur richtigen Zeit am richtigen Ort: Die Bikesaison für die Trans Grischun
Bei der Trans Grischun startet man auf über 2000 m ü. M. am Oberalppass und überquert unterwegs zwei weitere Pässe in dieser Höhe. Entsprechend spät beginnt die Saison, um Altschneefelder zu vermeiden. Beste Zeit: Juli – September.
Weitere Informationen
• Graubünden Ferien: graubuenden.ch/gravelandroad
• Disentis Sedrun Tourismus: disentis-sedrun.ch
• Surselva Tourismus: surselva.info
• Engadin Samnaun Val Müstair: engadin.com
GPX / Oberalppass – Chur
GPX / Lavin – StaMaria