Kaum eine Wolke zieht über den blauen Himmel. Eine Wiedergutmachung für den durchwachsenen Starttag gestern? Feiner Pulver, wilde Gletscher – die Ski-Transalp sollte gleich mit einem Ausrufezeichen beginnen. Mit einer Abfahrt vom Piz Palü. Doch schon im Morgengrauen fauchen heftige Windböen um das Berghaus Diavolezza. Eine mächtige Föhnwalze von den Palü-Pfeilern bis zum Piz Bernina vereitelt alle hochtrabenden Pläne. Jetzt dort hinauf? Das wäre sinnlos und gefährlich. «Eine Alpenüberquerung mit Ski erfordert viel alpinistische Erfahrung. Wetter, Schneesituation und Lawinengefahr realistisch einschätzen zu können und entsprechend zu reagieren, ist unverzichtbar», erklärt Gian Luck, Leiter der Bergschule Pontresina. Vor ein paar Tagen hatte er noch grünes Licht gegeben, die Bedingungen seien gut, meinte er. Doch dass eine Transalp auch Improvisationstalent verlangt, werden wir in den nächsten Tagen noch öfter erfahren. Von unserem Startpunkt an der Diavolezza wollen wir in sechs Tagen bis an den Alpennordrand bei Oberstdorf. Immer wieder werden Bergbahnen die Aufstiege verkürzen. Das spart Zeit und erhöht den Abfahrtsspass. Trotzdem soll die Route regelmässig in versteckte Bergregionen führen.
Modernes alpines Abenteuer
Doch zurück zur Fuorcla Valletta. Luggi und Louis stapfen am Grat entlang bergauf in die unberührte Nordflanke der Trais Fluors. Der Name der drei Felsspitzen stammt aus dem Rätoromanischen und heisst so viel wie «Drei Blumen». Wenig später ziehen sich von diesen drei Blumen einsame Spuren ins Valletta da Bever – wie ein Band, das sie zu einem Strauss verbindet. «Flower-Power-Powder, was für ein Run», grinst Luggi, als er in einer Senke abschwingt. Schon jetzt zahlt sich unsere unkonventionelle Strategie bei der Tourenplanung aus. Anstatt von Nord nach Süd – wie bei Transalps oft üblich – bewegen wir uns in umgekehrter Richtung. Vorteil: Die Abfahrten verlaufen oft nordseitig und bieten, obwohl es seit Tagen nicht mehr geschneit hat, gute Chancen auf Pulverschnee. Zusätzlich reduziert sich die Gefahr, bei warmem Wetter spät am Tag in aufgeweichte, lawinengefährdete Südhänge zu geraten.
Bald wird das Gelände wieder steiler. Beim Slalom durch den abschüssigen Wald hinab zum Bahnhof Spinas brennen die Oberschenkel. Schweisstropfen quellen unter dem Helmrand hervor – trotz frostiger zehn Grad minus. Ein paar Minuten bleiben noch, ehe der Zug nach Davos in den alten Bahnhof einfährt. Schnell noch ein Espresso im Gasthaus Spinas. «Das urige Gebäude mit der 100 Jahre alten Kegelbahn ist eines der letzten vom ehemaligen Barackendorf, das zum Bau des Albulatunnels angelegt worden war», erzählt Wirt Roland Gruber. «Solch kleine Entdeckungen machen eine Alpenüberquerung aus», meint Louis. «Zu einer Transalp gehört für mich auch, neue Ecken der Alpen kennenzulernen, in die man sonst nicht so leicht kommt.» Roland nickt. Dann deutet er auf die Uhr. Der Zug!
Munkees, Fixnzip M, CHF 12.90
K(l)eine Katastrophen
Knackig kalt, aber sonnig. Der folgende Tag beginnt verheissungsvoll. Doch die nächste Überraschung bahnt sich bereits an. Während Luggi und ich zum Madrisahorn aufsteigen, schiebt sich eine Nebelbank über die Grate nördlich der Madrisa. Louis hat bereits den direkten Weg ins Montafon eingeschlagen, um in Gargellen eine neue Jacke zu organisieren. Eine Weile später klingelt das Handy. Louis ist dran. «Habt ihr gute Sicht?», fragt er mit leicht ironischem Unterton und verrät dann etwas verlegen: «Ich bin im Nebel ins falsche Tal abgebogen.» Statt im Montafon ist er in St. Antönien im Rätikon gelandet. Seine Beschäftigung für den Rest des Tages: Bus- und Zugfahrpläne studieren und mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Zürs am Arlberg kutschieren, wo wir uns abends treffen wollen. Wenn mal etwas schief geht, dann wohl richtig. Auch Luggi und ich haben bald mit dem Nebel zu kämpfen. Im vorderen Teil des Montafons am Kreuzjoch sehen wir kaum die Hand vor den Augen. Statt tolle Freeride-Hänge zu surfen, tasten wir uns auf Pisten und durch Waldschneisen voran. Im Vergleich zu den Hürden, die Hannibal bei seiner Alpenüberquerung nehmen musste, sind das wohl Luxusprobleme. Lange galten die Alpen als unüberwindbares Hindernis, bis der karthagische Heerführer 218 v. Chr. bei seiner Überquerung mit 50ˇ000 Soldaten, 9000 Reitern und 37 Elefanten im Schlepptau die Welt eines Besseren belehrte. «Ach, gegen Hannibals Gewaltmarsch ist unser Trip immer noch gemütlich», lacht Louis abends beim Bierchen in Zürs.
Gemütliche 24,8 Grad minus. Die Sesselliftfahrt am nächsten Morgen in Zürs wird trotz Sitzheizung ein frostiger Kaltstart. Oben in der Senke des Pazieltals sind es wohl um die minus 30 Grad. Der eisigste Tag des Winters. Nach nur einer Abfahrt ist die Gesichtsmuskulatur wie gelähmt. Sprechen kaum noch möglich. Die Freeride-Runde von Zürs nach Lech ist gestrichen. Um uns aufzuwärmen, entscheiden wir uns für einen längeren Aufstieg zur Wösterspitze. Das funktioniert im geschützten Bergkessel ganz gut. Doch oben am Grat schlägt der stramme Ostwind wieder zu. Selbst im Aufstieg, drei Jacken übereinander, mit Helm und Gesichtsmaske, ist es einfach nur kalt. «Mit Windchill hat sich das wie minus 43 Grad angefühlt», rechnet Luggi abends mit einer App am Smartphone aus.
Faszination Einsamkeit
«Obwohl wir auf den letzten Etappen viele Skigebiete gestreift haben, waren wir verblüffend einsam unterwegs», überlegt Louis vor der letzten Abfahrt dieser Transalp. Sein Blick streift von der Kanzelwand bei Oberstdorf nach Süden. «Wie viele Bergketten haben wir in den vergangenen sechs Etappen wohl überquert?», fragt er Luggi. Eine Woche voller faszinierender Momente geht zu Ende. Sechs Tage, garniert mit ein paar abenteuerlichen Überraschungen – den würzigen Zutaten für eine unvergessliche Entdeckertour. Die letzten Schwünge führen hinab nach Oberstdorf. Die Gedanken sind längst bei der nächste Alpenüberquerung – natürlich wieder im Winter.
EIN KLARES ZIEL
Sicher, eine einwöchige Ski-Transalp ist eine Herausforderung: körperlich, was alpine Erfahrung und Improvisationsvermögen betrifft. Aber gleichzeitig ist sie auch Motivation. Man steckt sich ein klares Ziel, das man Schritt für Schritt erreichen und bewältigen will – von der Vorbereitung bis zur Ankunft am Ziel. Bei mangelnder Vorerfahrung ist es auf jeden Fall ratsam, sich für eine solche Unternehmung, bei der man oft in unbekanntem, hochalpinem Terrain unterwegs ist, einen Bergführer zu buchen.
SPANNUNG
Eine Ski-Transalp ist extrem vielseitig. Die Herausforderungen, die Schneebedingungen, die Landschaft und das Wetter wechseln. Immer wieder kommt man an Orte, die man auf normalen Tagestouren vielleicht nie erreicht hätte.
SPASS IN DER GRUPPE
In einem guten Team macht eine Ski-Transalp doppelt Spass, man motiviert sich gegenseitig und kann die Eindrücke unmittelbar teilen. Und aus Sicherheitsgründen sollte man ein solches Projekt sowieso besser nicht alleine angehen.
ENTSCHLEUNIGUNG UND INTENSIVE SELBSTERFAHRUNG
Kein Tag ist wie der andere. Auf einer Ski-Transalp erlebt man in ein paar Tagen so viel wie sonst nur in einem ganzen Winter. Wetter und Schneebedingungen geben den Takt vor. Manche Passagen durch einsame Bergregionen sind wie eine erfrischende Meditation.
WENIGER IST MEHR
Man ist mit minimalem Gepäck unterwegs und merkt schnell: Alles andere ist überflüssiger Luxus. Bei Übernachtungen in den Tälern muss man trotzdem nicht auf Komfort verzichten.
DAS GUTE GEFÜHL, ANZUKOMMEN
Geschafft! Im Ziel darf jeder ein bisschen stolz auf seine Leistung sein. Aber nicht nur das physische Ankommen zählt. Am Ende hat man auch das Gefühl, mental anzukommen: Der Körper mag müde sein. Der Kopf ist frisch wie selten zuvor.
SCHLEMMEN OHNE SCHLECHTES GEWISSEN
Es ist wahrlich kein Geheimnis: Wenn man den ganzen Tag auf Ski steht und auch noch so manchen Höhenmeter aus eigener Kraft aufsteigt, schmecken das Menü am Abend oder die Nusstorte auf der Hütte besonders gut – und man muss keinen Bissen davon bereuen.
PERFEKTES FITNESS-TRAINING
Die Toureneinheiten auf der Ski-Transalp sind ein effektives Ganzkörpertraining. Die Abfahrten ein ideales Krafttraining. So ist man nach der Durchquerung definitiv fit für ambitionierte weitere Skitourenprojekte im Frühjahr. Zur Vorbereitung lohnt sich die eine oder andere Tagestour.
Möglichkeiten für eine Alpenüberquerung auf Ski gibt es viele. Wir haben unsere Route entlang von Skigebieten gelegt, um Aufstiege immer wieder auch mit Bergbahnen und Liften zu verkürzen. Das spart Zeit und Kraft. Wichtig bei der Planung ist es, Ausstiegsmöglichkeiten und alternative Routenführungen für den Fall von Schlechtwetter, Lawinengefahr oder anderen Problemen einzuplanen. Alpine Erfahrung und entsprechende Kenntnisse bei der Einschätzung alpiner Gefahren und in der Lawinenrettung sind ein Muss. Weniger routinierte Skifahrer unternehmen eine solche Tour am besten mit Bergführer.
DIE TOUR
Die Route führte vom Oberengadin (Berninapass) bis an den bayerischen Alpenrand bei Oberstdorf: Berninapass – Diavolezza – Piz Palü – St. Moritz – Valetta da Bever – Spinas, Bever – Albulatunnel – Zug nach Davos – Weißflußjoch – Sapün bei Arosa – Klosters – Madrisa – Gargellen – Montafon – Klösterle – Langen – Zürs – Lech – Warth – Hochalppass – Baad – Walmendinger Horn – Hoher Ifen – Riezlern – Kanzelwand – Oberstdorf.
Genaues Kartenmaterial und entsprechende Orientierungskenntnisse unbedingt erforderlich.
BESTE JAHRESZEIT
Je nach Wetter und Schneebedingungen in der Regel Ende Februar bis Ende März
DIE AUSRÜSTUNG
Tourentaugliche Skiausrüstung sowie Lawinenverschütteten-Suchgerät, Lawinenschaufel und -sonde, bei Routen durch vergletschertes Gelände zusätzlich Gletscherausrüstung (Seil, Gurt, Sicherungsmaterialien); Thermosflasche mit warmem Getränk; Tagesverpflegung; warme Ersatzbekleidung.
VERANSTALTER
Oase Alpincenter Oberstdorf, Tel. +49 8322 8000 980, oase-alpin.de
Bergschule Kleinwalsertal, Tel. +43 5517 30245, bergschule.at
Mountain Elements, Tel. 08061 3498042, mountain-elements.com