Im Laufschritt zum Höhenflug – Trailrunning in Alta Badia
Im Laufschritt zum Höhenflug – Trailrunning in Alta Badia
 Datum: 15.04.2017  Text: Christian Penning  Fotos: Christian Penning 

Im Laufschritt zum Höhenflug – Trailrunning in Alta Badia

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Im Laufschritt zum Höhenflug – Trailrunning in Alta Badia
Von Hütte zu Hütte. Durch grandiose Berglandschaften. Mit grossem Trekkingrucksack oder dem Mountainbike sind solche ­Touren ein Klassiker. Doch wie wär’s mal mit Laufschuhen und ­minimalem Gepäck? Ein Selbstversuch auf den Höhenwegen rund um Alta Badia – auf der Suche nach der Leichtigkeit des Seins.
Im Laufschritt zum Höhenflug – Trailrunning in Alta Badia
Im Laufschritt zum Höhenflug – Trailrunning in Alta Badia
Schroffe Gipfel und bizarre Felstürme – wild und roh ragen sie auf. Seit drei Tagen sind wir im Laufschritt durch die Dolomiten unterwegs. An die 75 Kilometer und ein paar Tausend Höhenmeter stecken in den Beinen. Eigentlich müssten Urs und ich jetzt platt sein. Doch der Kamm der Lagazuoi-Kette wirkt wie ein magischer Kraftort. Wie eine Fantasy-Burg thront er inmitten einer Urzeit-Kulisse. Ein Pfad führt einer Himmelsleiter gleich durch eine riesige Felswand, die eher fürs Big-Wall-Klettern als zum Laufen geeignet scheint. Eine Schinderei, ja. Aber oben an der Gran Forcella fühlen sich Beine und Kopf wieder wunderbar leicht an. Als hätte eine unsichtbare Macht die inneren Akkus an ein Schnellladegerät angeschlossen. Die untergehende Sonne wirft zwischen dicken Wolkenpaketen ihre Strahlen auf die gegenüberliegenden Felsfestungen des Sella-Massivs. Ein geradezu unwirkliches Bild – wie am ersten Tag der Schöpfung.

Es ist vollbracht – fast. Noch eine Stunde. Hinab zum Passo Falzarego. Dann geht dieser Lauf auf alpinen Traumpfaden ­ zu Ende. Vorher noch einmal durchatmen. Geniessen. Den Moment aufsaugen. Losgelöst von der Zeit. Die scheint still zu stehen. Erst ein leises «Jetzt sollten wir aber, ... es wird bald dunkel!» von Urs bringt die Uhr wieder zum Ticken. Wenig später springt er wie eine Gämse die Serpentinenpfade bergab, ich hinterher. Im letzten Dämmerlicht des Abends erreichen wir unser Ziel, den Falzarego-Pass.
Im Laufschritt zum Höhenflug – Trailrunning in Alta Badia
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Minimales Gepäck – der Schlüssel zum Erfolg?

Begonnen hat dieser Lauf vor 60 Stunden. Ein spontanes Experiment. Mountainbike und Helm, der grosse Trekking­rucksack, das Klettersteig-Set, die klobigen Bergschuhe - all das ist zu Hause geblieben. Als wir uns in La Villa startklar machen, tragen wir nicht viel mehr mit uns als bei einer Joggingrunde zu Hause am Feierabend: Laufhose, Shirt, Trailrunning-Schuhe. Im kleinen, leichten Laufrucksack stecken eine Trinkblase mit Wasser, zwei Energieriegel, eine dünne Isolationsjacke und eine Regenjacke. Wir wollen die Berge diesmal anders erleben. Nicht als Biker, nicht als Wanderer oder Bergsteiger – als Trailrunner. Ein dreitägiger Etappenlauf rund um Alta Badia, das Hochtal zwischen den wuchtigen Felsmassiven der Sella, Fanes und Tofana. Was wird auf uns zukommen? Schmerzende Beine, pfeifende Lungen – eine Tour de Tortur? Werden wir uns schon nach einem halben Tag ein Bike als rollenden Untersatz wünschen? Werden wir uns wünschen, die strapazierten Knöchel endlich wieder in stabile Bergschuhe zu stecken?

Bei meinem Begleiter Urs habe ich da keine Bedenken. Der Bergführer aus Meiringen im Berner Oberland ist fit wie ein Laufschuh, trainiert gerade für den Eiger Ultra Trail: 101 Kilometer und 6700 Höhenmeter nonstop. Was mich selbst betrifft, bin ich da schon skeptischer. Mit Biken und Rennradfahren habe ich mich den Sommer über halbwegs fit gehalten. Doch nach einer Verletzung im Frühjahr fehlt mir die Laufpraxis. Gerade mal zwei Waldläufe habe ich in den vergangenen vier Monaten absolviert – aus schlechtem Gewissen gerade mal zwei, drei Tage vor unserem Start. Halte ich das durch?

«Wir gehen’s ruhig an», lächelt Andreas Irsara. Der Mountainbike- und Trailrunning-Guide ist in La Villa, unserem Ausgangsort, aufgewachsen. «Tre caffè si prega!», ordert er vor dem Start. An der Bar dampfen drei Espressi. Draussen verhüllen noch schwere, graue Wolken die Gipfel. Reste eines mächtigen Gewitters in der Nacht. «20 bis 25 Kilometer pro Tag, das wird ein Genuss», prophezeit Andreas und kippt die dunkle Essenz mit einem Schluck runter. Zwei Stunden später wäre der Kreislauf auch ohne den schwarzen Muntermacher in Schwung. Wir arbeiten uns an die mächtige Wand des Heiligkreuzkofels (2907 m) heran. Immer wieder nimmt Andreas den Kopf in den Nacken und blickt hinauf. Nahe des Heiligkreuz-Hospizes auf gut 2000 Metern Höhe hält er kurz an und deutet nach oben. «Da, der Mittelpfeiler!» Reinhold und Günther Messner schrieben in dieser Kletterroute 1968 Alpingeschichte. Längst gehört sie zu den Superklassikern in den Dolomiten. Die Schlüsselstelle im oberen VII. Schwierigkeitsgrad galt damals als beinahe unmöglich. «Wir begnügen uns heute mit kleineren Herausforderungen», meint Andreas augenzwinkernd und schlägt den Kreuzweg ein, der sich im welligen Auf und Ab am Fusse der langgezogenen Felswand entlangschlängelt.

Grüssend kurven zwei Mountainbikerinnen vorbei. «Wenn der Trail gut für Bike-Touren ist, dann macht es auch Spass, ihn zu laufen», weiss Andreas aus Erfahrung. «Dann ist er weder rauf noch runter zu steil.» Für den ersten Tag hat er eine gemässigte Route gewählt. Lichte Lärchenwälder, sanfte Alpwiesen. Die Umgebung und die Panoramablicke sind dennoch spektakulär. «Typisch für Alta Badia», bemerkt er. Ein weiterer Vorteil: Im Tal reiht sich ein Dorf, eine Siedlung an die nächste. «Falls sich mal jemand verletzt oder ein Wettersturz ein Weiterlaufen vereitelt, ist man schnell wieder in der Zivilisation.» Ein ideales Terrain, um sich warmzulaufen.
Im Laufschritt zum Höhenflug – Trailrunning in Alta Badia
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Energie sparen – im kleinen Berggang bergauf

Schneller als gedacht ist nach einer Downhill-Passage hinab nach St. Kassian das erste Teilstück geschafft. Die Beine sind noch halbwegs fit. Doch der nächste lange Anstieg wartet schon: 700 Höhenmeter hinauf zum Wiesengrat an der Pralongia. Ich sehe meine Zunge schon an den Schuhsohlen hängen. In meinem Kopf tauchen Bilder auf von Extremrennen wie dem Ultra Trail du Mont Blanc. Von ausgemergelten Gestalten, gepeinigt von riesigen Blasen an den Füssen, geplagt von Krämpfen und Halluzinationen. Doch Andreas beruhigt: «Piano!» Und dann plaudert er von seinen Trailrunning-Touren. «Am Anfang dachte ich immer, man müsse jeden Meter laufen», sagt er. «Aber viele meiner Gäste kommen aus dem Flachland. Die können am Berg teils gar nicht laufen. Hoch und runter wandern wir dann oft nur schnell.» Und auch bei Wettkämpfen, bei denen die Weltspitze mit am Start war, hat Andreas gelernt: «Es ist immer noch Trailrunning, wenn man schnell geht. Du musst dich einfach ans Gelände anpassen. Dann ist die Anstrengung gar nicht mehr so schlimm.» Am nächsten Steilstück legt er den Berggang ein. Zusammen mit Urs geht er zügig voran. Ich folge. Stütze an Wurzelstufen die Arme auf den Knien auf. Atem und Puls sind im grünen Bereich. Wir bewegen uns trotzdem annähernd so schnell, als würden wir laufen. «Du siehst», sagt er, «das spart Kraft und bringt den Körper nicht so sehr ans Limit.»
«Wenn der Trail gut für Bike-­Touren ist, dann macht es auch Spass, ihn zu laufen.»
Schon seit acht Jahren veranstaltet der Guide aus Alta Badia Trailrunning-Touren durch die Dolomiten. Von Hütte zu Hütte, in unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden. Meist orientiert er sich dabei an den Dolomitenhöhenwegen 1 und 2. «Wir sind immer möglichst leicht unterwegs», erzählt er. «Wechselkleidung und sonstige Utensilien, die uns während des Tages nur bremsen würden, lassen wir in separaten Taschen oder Rucksäcken auf die Hütten transportieren. Wenn du locker an den Hüttenwanderern mit ihren grossen, schweren Rucksäcken vorbeihuschst, merkst du erst, wie unbeschwert das Laufen ist.» Noch ist es nur eine kleine Minderheit, die so die Berge erkundet. «Aber das kommt noch», prognostiziert er. «Irgendwann wird es für fitte Bergsportler ganz normal sein, nicht nur Wettkämpfe in alpinem Terrain zu laufen. Wandern ist 100 Jahre alt. Trailrunning im modernen Sinne ist noch sehr jung. Viele trauen sich noch nicht, alleine loszulaufen. Doch die Zeit wird kommen ...!»

In der Tat ist das Laufen dem Menschen in die Wiege gelegt. «Gut zu laufen», philosophiert Bernd Heinrich in seinem Buch «Laufen», «ist für uns heute ein Wert und keine Notwendigkeit.» Heinrich ist emeritierter Professor für Zoologie an der Universität Vermont und selbst erfolgreicher Ultra-Läufer. Die nötigen Anlagen, sagt er, trage jeder in sich. «Wir haben Lungen, Gliedmassen, Herzen und Köpfe, die sich zum Laufen eignen, so wie die Zugvögel alles haben, was sie für ihre Reisen brauchen.» Die Fähigkeit, enorm ausdauernd zu laufen, hat dem Menschen im Laufe der Evolution das Überleben gesichert, ihn zu dem gemacht, was er heute ist. Und noch etwas habe der Mensch laut Heinrich den Tieren voraus: die Fähigkeit, zu träumen und diese ­Visionen in konkrete Ziele umzusetzen.
Im Laufschritt zum Höhenflug – Trailrunning in Alta Badia
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Im Runner’s High zu neuen Höhen 
Andreas Irsara (44) arbeitet als Trailrunning- und Bike-Guide in Alta Badia. Jeden Sommer führt er mehrtägige Bergläufe durch seine Heimat. Seine Top-Tipps zu Ausrüstung, Training und Laufstrategie. 

Wie fit muss ich für eine mehrtägige Trailrunning-Tour sein?
Du solltest natürlich fit genug sein, Strecken von 20 bis 25 Kilometern zu laufen. Wichtig ist es, nicht auf die Zeit zu schauen. Das sorgt nur für Stress. Man läuft einfach drauflos, wie beim Wandern. Ohne Wettkampfstress, ohne falschen Ehrgeiz. Und falls die Beine doch mal müde werden, wandert man einfach flott dahin. Du solltest einfach Spass daran haben, dich schnell fortzubewegen.

Nicht jeder ist daran gewöhnt, lange bergauf oder bergab 
zu laufen – wie kann ich mich vorbereiten?
Das geht sogar in der Grossstadt und im Flachland: Treppensteigen, Treppenlauf, kleine Anstiege, Hügel, ... und am Wochenende mal eine Wanderung in den Bergen mit Laufpassagen, die man peu á peu erweitert. So kann man sich gut an längere Bergläufe herantasten. Ruhig auch mal auf schlechten, ruppigen Pfaden laufen, auf Wiesenboden, ... Wechselndes Terrain hilft, die ­Koordination beim Laufen zu verbessern. Und auf keinen Fall das Bergablaufen im Training vergessen, sonst droht auf Tour ein Megamuskelkater.

Worauf kommt es bei der Ausrüstung an?
Entscheidend sind die Schuhe. Im alpinen, oft ­schottrigen Gelände ist eine stabile Sohle mit gutem Grip besonders wichtig. Gleichzeitig sollte der Schuh aber noch flexibel genug sein für ein entspanntes ­Laufen. In den Laufrucksack gehören auf jeden Fall eine leichte Isolations- und Regenjacke sowie eine ­dünne Regenhose. Eine Kappe als Sonnenschutz ist ­gerade an klaren Tagen Gold wert. Gerade für ­Einsteiger sind auch Stöcke sehr hilfreich. Bergauf ­bieten sie eine gute Unterstützung. Bergab funktionieren sie im schwierigen, steilen Gelände als Balancehilfe und mindern das Risiko, abzurutschen.
Im Laufschritt zum Höhenflug – Trailrunning in Alta Badia
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Kein überflüssiger Ballast – die Freiheit des Läufers

Meine Vision für heute ist eher banaler Natur. Während ich gerade die letzten Tropfen Wasser aus der Trinkblase im Rucksack sauge, träume ich von einem Panaché. Immerhin ist der Anstieg nun fast geschafft. Schier endlos windet sich ein schmaler Pfad am Graskamm der Pralongia entlang. Eine Aussichtsloge par excellence. Marmolada, Sella, Fanes – in allen Himmelsrichtungen wachsen wuchtige Felsmassive in den Himmel. In der Verlängerung des Bergkamms neigt sich die Sonne dem Horizont zu. An einem windstillen Platz lassen sich Urs und Andreas ins hohe Berggras plumpsen. Grillen zirpen. «Laufen ist einfach herrlich puristisch», sinniert Urs. Langsam dämmert mir, wie viel Unabhängigkeit und Freiheit in ein paar Laufschuhen und einem kleinen, leichten Laufrucksack stecken. «Da ist kein überflüssiger Ballast», bringt es Andreas auf den Punkt. Wie wahr! Wir sind fast so schnell wie mit dem Mountainbike, können steile Passagen in Angriff nehmen, ohne einen schweren, sperrigen Rahmen zu schultern. Kein Platten, keine technischen Defekte. Keine Expressen, kein Kletterseil, keine Ausrüstung, die das Rucksacktragen zur Schlepperei macht. Keine Technik-Diskussionen. «Laufen ist viel weniger materiell», meint Urs. «Du kannst auch mit einem Baumwoll-Shirt und ausgelatschten Schuhen noch grossartig rennen. Du konzentrierst dich auf das Wesentliche. Auf die Natur, auf dich.»

Noch ein paar Minuten lang lässt der rote Feuerball am Horizont die Bergspitzen erglühen. Dann bricht die blaue Stunde herein. «Los!», ruft Andreas. «Der Hüttenwirt wartet nicht ewig mit dem Abendessen.» Oder besser gesagt, mit dem Dîner. Denn die Las Vegas Lodge, in der wir in dieser Nacht logieren – ja, logieren trifft es gut –, ist weit mehr als eine einfache Berghütte. Grosse Panoramafenster im Restaurant, eine chice Bar, elegante Designerzimmer – Wirt Ulli, ehemals Skiprofi und Skilehrer, weiss, wie man die Gäste aus dem Tal auf den Berg lockt. «Perfekt zum Regenerieren», schwärmt Urs. «Das ist doch was anderes, als ein Bettenlager mit einem Dutzend Schnarchern zu teilen!»

Der nächste Morgen. Lange bevor die ersten Wanderer vom Tal heraufkommen, ziehen Andreas und Urs ihre Spur über die menschenleeren Alpwiesen. Die Eisfelder des Marmolada-Gletschers blinken in der frühen Morgensonne. Eine Stunde später löst Andreas im Tal bei Corvara die Bergbahn-Tickets. – Mit der Gondelbahn? «Ja, auch das ist mal erlaubt», grinst unser Guide schelmisch. «Schliesslich haben wir auch so noch genügend Höhenmeter vor uns. Und die wollen wir ja geniessen.» In der Tat bietet sich das dichte Netz an Bergbahnen und Passstrassen geradezu an, kraftsparend Höhe zu machen und dann lieber eine zusätzliche Schleife durch die beeindruckenden Panoramalandschaften jenseits der 2000-Meter-Grenze zu ziehen.
«Langsam dämmert mir, wie viel Unabhängigkeit und Freiheit in ein paar Laufschuhen und einem kleinen, leichten Laufrucksack stecken.»

«Bravo, bravo!» – Beifall am Steilanstieg

Oben am Grödner Joch geht es dann wirklich zur Sache. Zwischen den Cir-Spitzen windet sich ein Bergpfad steil nach oben, hinauf zu den Gipfeln der Puez-Gruppe. «Bravo, bravo!» Immer wieder machen Wanderer beinahe ehrfürchtig Platz, klatschen Beifall, feuern an. Gut so, denn jetzt ist jede Motivation willkommen. Dazu trägt auch die Landschaft ihren Teil bei. Wie die Türmchen steinerner Kathedralen ragen die Cir-Spitzen empor. Ein Wunderwerk der Erosion. Eine der beeindruckendsten Ecken der Alpen. Seit 2009 ist der Naturpark Puez-Geisler Teil des UNESCO Welterbes Dolomiten.

Im Labyrinth der Felsblöcke biegt plötzlich ein anderer Läufer ums Eck. Blitzende Augen, Vollbart, topfit, durchtrainiert. «Ciao a tutti», winkt er. Es ist Filippo Beccari, einer der besten Bergläufer der Region. «Gleich hinter meinem Haus beginnt eine der härtesten Wettkampfstrecken in den Dolomiten, hinauf auf den Col de Lana: 1000 Höhenmeter auf nur zwei Kilometern Strecke», erzählt er bei einer kleinen Pause. Vergangenes Jahr wurde Filippo Achter. Alleine wegen der Landschaft ziehen die Bergläufe in den Dolomiten mittlerweile Tausende von Teilnehmern an.

Das SkyRace auf den Piz Boe mit 1700 Metern Höhenunterschied ist Teil der internationalen Skyrunning-Rennserie. Die Krönung aber, so der 37-Jährige, sei das Sellaronda Trail Running: 61 Kilometer und 3670 Höhenmeter rund um das Sella-Massiv.

Noch faszinierender jedoch findet es Filippo, die abgelegenen Ecken seiner Hausberge zu erkunden, die wilde Schönheit. «Selbst viele ausgesetzte, extrem wirkende Gipfel kannst du hier auf guten Pfaden erreichen.» Ein Teil des Wegenetzes stammt aus dem Ersten Weltkrieg, als die italienischen Alpini und die österreichischen Kaiserjäger selbst auf den höchsten Dolomitengipfeln ihre Stellungen bezogen hatten. Spontan entschliesst sich Filippo, ein Stück mit uns zu laufen. «Kommt, ich zeige euch was!» Immer höher hinauf führt der Pfad. Endlich ist das Cir-Joch erreicht. Eine Felswüste wie aus einem Fabelreich. Der Puls pocht, die Oberschenkel scheinen kurz vorm Platzen. Zwei Panoramafotos. Weiter! Nach einem kurzen Downhill: die nächste Steigung. Hinauf zur Forcola di Crespeina. Die Mittagssonne heizt die Felswüste auf. Die Beine werden müde. Jetzt heisst es beissen. Vor mir läuft Andreas. Provozierend locker. Und diese Waden: wie Stahl! Ich stelle mir vor, es wären meine. Und schon geht es leichter. «Ja», sagt Andreas nickend, «bei langen Läufen in den Bergen passiert ein grosser Teil der Leistung im Kopf.» Das bestätigt auch Sportpsychologe Dr. Michele Ufer. In umfangreichen Forschungen mit Ultra-Trail-Läufern und Selbstversuchen hat er nachgewiesen: «Entscheidend ist ein mentaler Ressourcen-Reload: die Fähigkeit, in Grenzsituationen positive Bilder und Erfahrungen im Gehirn abzurufen und durch positive Konditionierung Energie zu aktivieren.»
Im Laufschritt zum Höhenflug – Trailrunning in Alta Badia
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Wilde Schönheit ... und der Sinn des Laufens

Einen zusätzlichen Energieschub gibt der Ausblick am nächsten Joch. Inmitten der Felswüste liegt ein grüner Kessel mit Bächen, Alpwiesen und einem glitzernden Bergsee: der Lech de Crespeina. «Die Leute im Tal fragen mich immer wieder: Warum läufst du?», erzählt Andreas. «Das hier ist die Antwort. Das ist mehr wert als alles Geld auf der Welt.» Urs nickt. Schaut. Schweigt. Geniesst. «Ich habe euch nicht zu viel versprochen, oder?», sagt Filippo. Dann wird es Zeit für ihn umzukehren, zurück zum Grödner Joch. Andreas, Urs und ich laufen weiter, den nächsten Exponaten in diesem Museum alpiner Schmuckstücke entgegen.

Allmählich verfinstern Wolken die Sonne. Dicke, graue Schleier fliegen heran, lassen die Bergspitzen im Nebel verschwinden. Ein unangenehmer kalter Wind pfeift über das karstige, knochenbleiche Felsplateau. Er peitscht ein paar Regentropfen, gemischt mit Graupel, vor sich her. Gut, jetzt noch eine zusätzliche Jacke im Laufrucksack zu haben. Ein paar Minuten später ist der Spuk vorbei. Letzte Wolkenfetzen umspielen die Schluchten des Sassongher. Wild und schön. Wie recht doch Filippo hatte.

Erst kurz vor der urigen Gardenacia-Hütte wird die Landschaft wieder grüner, lieblicher. Die Abendsonne setzt leuchtende Spots. Am Horizont türmen sich dunkle Gewitterwolken über den Felsskulpturen des Fanes-Massivs. «Pasta?», fragt die Bedienung. «Si, am besten gleich eine doppelte Portion!» – «Noch ein Grund, weshalb ich laufe», lacht Andreas, als das Nachtessen dampfend am Tisch steht. Er schenkt noch etwas Rotwein nach. «Gut, allzu viel sollte man sich davon natürlich nicht gönnen. Wir sollten ja auch regenerieren. Schliesslich ist morgen auch noch ein Tag.» Zwei Stunden später liegen drei Läufer tief und traumlos schlafend in den Betten.
«Zeit und Geschwindigkeit ­spielen keine Rolle. Wie Kinder im Spiel. Versunken ins Abenteuer Trail.»

Immer weiter – voll im Flow

Wieder ist es ein Sonnenaufgang wie aus dem Bilderbuch. Eine dünne Reifschicht überzieht das Gras der Sterner Alm. Doch schon Minuten später vertreiben Sonne und Bewegung Kälte und Steifheit aus den Muskeln. Angenehm schlängelt sich der Weg zwischen den Karstfelsen und Wiesen der Gardenacia-Hochebene bergauf. Bald verrichten die Beine ihren Dienst wie automatisch. Gibt es so etwas wie das Flow-Feeling beim Biken auch beim Laufen? «Ja», meint Andreas, «Voraussetzung ist natürlich eine entsprechende Kondition. Dann spürst du eine Lockerheit, die Beine tragen dich wie von selbst.» «Manchmal», ergänzt Urs, «fühlt sich das fast wie eine Flucht vor dem Alltag an.» Dem nähern wir uns zwei Stunden später mit jedem Schritt Richtung Tal. Für Andreas ist es an der Zeit, sich zu verabschieden. Auf ihn wartet bereits die nächste Läufergruppe. Doch bevor sich unsere Wege trennen, hat er noch einen Tipp für Urs und mich. «Wenn Kopf und Beine noch wollen, gönnt euch noch die Runde an der Lagazuoi.»

Und ob sie noch wollen! Zwei Stunden später erreichen wir nach einem Slalom zwischen mächtigen Boulder-Blöcken eine grüne Senke. Wollgras leuchtet im Gegenlicht. Ringsherum wirken die Wände der Lagazuoi-Kette wie Mauern eines Amphitheaters. Die grossartige Kulisse für den letzten Akt unseres alpinen Etappenlaufes. Längst ist der Körper auf Dauerlauf programmiert. Der Kopf träumt vom nächsten Gipfel, von neuen Zielen. Zeit und Geschwindigkeit spielen keine Rolle. Vielleicht ist ja genau das Teil der Freiheit beim Laufen: aufzugehen in der Natur, in der Bewegung. Wie Kinder im Spiel. Versunken ins Abenteuer Trail. Eine Stunde später erreichen wir die Zinnen der Fantasy-Burg am Lagazuoi-Kamm. Beine und Kopf fühlen sich wunderbar leicht an. Das Experiment, es ist geglückt.
Trailrunning Alta Badia
ALLGEMEIN

Alta Badia steht für den Südteil des Gardertales. Der Name ist ladinisch und bedeutet «Hochabteital». Zu Alta Badia gehören unter anderem die Gemeinden Corvara, La Villa, Colfosco und St. Kassian. Das weitläufige Netzt von mehr als 400 Kilometer Wanderwegen ist perfekt mit dem Wegenetzt der Nachbarregionen in den Dolomiten verbunden. Direkt erreichbar sind die Naturparks Puez-Geisler und Fanes-Sennes-Prags. Auf komfortablen Berghütten kann man nach den Tagesetappen der Trailrunning-Touren mit Genuss regenerieren. Selbst exponierte Gipfel sind auf Wanderpfaden mit Trailrunning-Ausrüstung erreichbar. Wer Höhenmeter sparen möchte, kann auch einige der zahlreichen Bergbahnen benützen.

Höhenlage: ca. 1400 – 3150 Meter (Piz Boe)
Charakter: Wechsel von sanften Wander- und Wiesenpfaden und hochalpinen mit Felsen, Kies und Schotter.
Beste Jahreszeit: Mitte Juni bis Mitte September
Guiding: Trailrunning-Guide Andreas Irsara, holimites.com;
Trailrunning in den Schweizer Alpen: Bergführer Urs Baumgartner, urs-baumgartner.com


ROUTE

1. Tag: La Villa – Heiligkreuz Hospiz – St. Kassian – Pralongià – Las Vega Lodge
2. Tag: Las Vegas Lodge – Corvara – Grödner Joch – Rifugio Jimmy – Cirjoch – Focula de Ciampei Somaturcia – Focula di Sassongher – Sterner Alm – Gardenacia Hütte
Gardenacia Hütte – Gardenacia Hochebene – Ciampani – Gardenacia Hütte – La Villa. Zusatzrunde: Passo Falzarego – Seilbahn Lagazuoi – Gran Forcela – Forcula Gasser – Forcula Travenanzes – Passo Falzarego

Weitere, individuell zusammengestellte Routen: siehe Guide Andreas Irsara


UNTERKUNFT
Hotels, Ferienwohnungen und Pensionen in allen Kategorien in Alta Badia; altabadia.org

Hütten:
Las Vegas Lodge, sehr komfortables, modernes Berghotel mit kreativer Küche, Tel. +39 0471 84 01 38, lasvegasonline.it
Albergo Rifugio Pralongiá, geschichtsträchtiger Berggasthof mit modernen Zweibett-Zimmern und Schlafsälen, gehobene Küche, Tel. +39 0471 83 60 72, pralongia.it
Gardenacia Hütte, traditionelle Berghütte mit Zweibettzimmern und guter Küche, Tel. +39 0471 84 01 28, gardenacia.it

Anreise:
A14 Rheintal Autobahn – Feldkirch – Bludenz – Imst – A 12 Innsbruck – A13 Brenner – Sterzing – Brixen Nord/Pustertal – SS49 – Richtung Bruneck – Abzweig SS244 Richtung Alta Badia – La Villa


RENNEN

Sellarondea Trail Running: 61,2 km, 3670 hm (16. September 2017), www.sellarondatrailrunning.com
Dolomite SkyRace: 22 km, 1750 hm (21./22 Juli 2017), dolomiteskyrace.it
Vertical KM Còl de Lana: 2 km, 1000 hm, v-km.it

Einsteiger-Tipp: Trialrunning zum Reinschnuppern jeden Donnerstag von 22. Juni bis 21. September in Alta Badia

Wegverlauf: Tourismusverein La Villa  – Lech da Sompunt See – Lech dla Lunch See – Maso Runch – Lech da Sompunt See – Tourismusverein La Villa
Dauer: 3 Stunden
Streckenlänge: 10,5km
Höhenunterschied: 520m ↑↓
Schwierigkeit: mittel
Treffpunt: ‪09:30 Uhr‪ Tourismusverein La Villa
Rückkehr: ca. ‪12:30 Uhr
Ausrüstung: Laufschuhe und Wasserflasche
Preis: 15 Euro
Anmeldung: Tourismusbüros in Alta Badia, altabadia.org