Zwischen zwei Welten. Im Porträt: Familie Zwahlen – Mit Kindern im Himalaya
Zwischen zwei Welten. Im Porträt: Familie Zwahlen – Mit Kindern im Himalaya
 Datum: 15.11.2019  Text: Peter Bader 

Familie Zwahlen – Mit Kindern im Himalaya

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Familie Zwahlen – Mit Kindern im Himalaya
Vor über zwanzig Jahren haben sich Martina und Thomas Zwahlen in den Himalaya verliebt. Sie haben mehr als sieben Jahre dort verbracht – einen Teil davon mit ihren drei Kindern. Eine Geschichte über ihr Leben in zwei Welten, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
Die Natur war fantastisch. Karg und anmutig zugleich. Martina und Thomas Zwahlen wanderten durch das Hochland des Himalayas in der Region Ladakh im Norden Indiens. Doch das Trekking auf 5000 Metern Höhe war anstrengend. Die beiden Pferde hatten schon lange kein Gras mehr bekommen. Darum waren Martina und Thomas froh, als sie endlich in tiefere Lagen absteigen konnten. Dort entdeckten sie ein Nomadenzelt, in dem eine alte Frau lebte. Sie war mit ein paar Tieren zurückgeblieben, während der Rest der Familie auf der Suche nach Futter für die Herde weitergezogen war. Die alte Frau schlief auf dem Boden, hatte keine Decke, nur eine Unterlage aus Karton. Sie lud die beiden Reisenden in ihr Zelt ein und bot ihnen ganz selbstverständlich ihre Tagesration von 3 Dezilitern Yak-Milch an. «Sie hat sich um uns gesorgt wie unsere eigene Grossmutter», erinnert sich Thomas Zwahlen zurück. Solche Begegnungen, bemerkt seine Frau Martina, seien der eigentliche Grund, warum sie immer wieder in die Himalaya-Region zurückkehrten. Sie stünden für die Herzlichkeit und Authentizität der Menschen, die Gastfreundschaft und das kompromisslose Geben – ohne selbst viel Besitz zu haben. «Ich liebe das einfache und ruhige Alltagsleben und kehre jeweils mit der wohltuenden Gewissheit zurück in die Schweiz, dass auch ein Leben ohne Luxus glücklich macht», sagt Martina.
«Auch ein Leben ohne Luxus macht glücklich.»

Keine romantisch verklärte Liebe

Es folgte ein ausgedehntes Trekking. Unterwegs halfen sie den Menschen bei der Ernte – im Gegenzug bekamen sie Buttertee oder ein Glas Chen, ein ladakhisches Gerstenbier. Sie fühlten sich wohl und hatten eine zweite Heimat gefunden. «Wir waren von der Natur und den Menschen derart fasziniert, dass wir uns entschlossen, im Himalaya zu bleiben.» So wurde aus der geplanten Weltreise ein eineinhalbjähriger Aufenthalt im Himalaya. 

Seither sind Martina und Thomas immer wieder zurückgekehrt: Sie zogen mit den Nomaden mit, arbeiteten mit den Menschen auf den Feldern, sangen ihre Lieder und brachten ihnen Schweizer Volkslieder bei. Bis heute sind sie beeindruckt davon, wie die buddhistische Religion und ihre Rituale im Alltag integriert sind, wie gross der Respekt vor alten Menschen ist. Wer den beiden Schweizern zuhört, merkt schnell, wie gross ihre Liebe und Faszination für die Menschen und die Natur des höchsten Gebirges der Welt ist, das sich auf einer Länge von rund 3000 Kilometern von Pakistan bis Myanmar erstreckt.

Klar wird aber auch: Es ist keine romantisch verklärte Liebe. Es ist auch eine ganze Menge Pragmatismus mit dabei. Und der ist wohl auch nötig, wenn man sich auf so abenteuerliche Reisen begibt. Martina und Thomas haben sich stets einen klaren Blick bewahrt: Sie sind nicht zum Buddhismus konvertiert, sondern sind gerade wegen der Erlebnisse wieder in die Schweizer Landeskirche eingetreten. «Wenn Nomaden für ihre Tiere kein Futter finden, sterben diese. Dann müssen die Menschen auch ihr Leben als Nomaden aufgeben und eine andere Beschäftigung finden, weil es keine Versicherungen für solche Notfälle gibt», erzählt Martina. Ihre Haltung sei: Das ist unser Schicksal, es ist für uns vorgesehen, wir müssen es akzeptieren. Dem Ehepaar imponieren die Demut und der Gleichmut, mit der Nomaden ihr Schicksal annehmen. Das sei bewundernswert, sagt Thomas, könne aber auch zu einer fatalistischen Haltung führen. Dagegen habe er auch schon versucht anzukämpfen. Als er während eines Winters mit Nomaden am Yar La, dem Sommerpass, in Ladakh lebte, wurde das Futter für die Tiere knapp. Es gab nur eine Rettung: Auf der Suche nach Futter mussten sie den Pass mit knapp 3000 Schafen und Ziegen überqueren. Und zwar bei Schneesturm und minus 30 °C. «Eine absolute Grenzerfahrung», erinnert sich Thomas. Hunderte Tiere starben. Mit diesem «Pass-Desaster» konnte er sich nicht abfinden und regte deshalb an, Futterspeicher zu bauen. 
Zwischen zwei Welten. Im Porträt: Familie Zwahlen – Mit Kindern im Himalaya
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Zwischen zwei Welten. Im Porträt: Familie Zwahlen – Mit Kindern im Himalaya
Zwischen zwei Welten. Im Porträt: Familie Zwahlen – Mit Kindern im Himalaya

«Wir werden immer Fremde bleiben»

In all den Jahren seit 1998 haben sich die Lebensverhältnisse der Menschen stark verändert: Während früher nur in die wenigsten Dörfer Strassen führten, ist heute fast jedes Dorf durch irgendeine Jeep-Piste erschlossen, was eine Abwanderung vieler Bergbewohner in die Städte zur Folge hat. Die zwar guten, aber zentralisierten Städteschulen tragen ihren Teil dazu bei. In den Dörfern finden sich oftmals nur noch schlechte oder gar keine Schulen mehr. Auch Spitäler und Krankenstationen sind vorwiegend in den Städten entstanden. Auf dem Land ist die gesundheitliche Versorgung – falls überhaupt vorhanden – meist schlecht. Während ihrer langen Aufenthalte bei Nomaden hätten sie gesehen, dass die fehlende Schulbildung ein grosses Problem sei, erzählt Martina. Also gründeten sie eine mobile Schule, die mit den Nomaden mitzieht – nur eines von vielen Hilfsprojekten, die sie in den vergangenen Jahren ins Leben gerufen haben.

Trotz ihrer grossen Hingabe für den Himalaya waren sie klug und ehrgeizig genug, sich in der Schweiz ein Leben aufzubauen – allein schon wegen der Bildung oder dem Gesundheitssystem. «Aber natürlich auch, weil die Schweiz unsere Heimat ist und wir im Himalaya trotz allem immer Fremde bleiben», sagen beide. So haben Martina und Thomas lieber ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht: Mit dem Reisebüro «Himalaya Tours» organisieren sie jährlich über 140 verschiedene Reisen in den Himalaya. «Thomas ist ein cleverer Typ, sehr tüchtig, effizient und detailversessen», sagt Andreas Hutter. Als Geschäftsführer der Explora Event AG, einem Veranstalter von Expeditions- und Abenteuervorträgen, organisierte er für Thomas Vortragsreisen. Beeindruckt von der grossen Leidenschaft und Neugierde, mit der das Ehepaar den Himalaya bereist, hatte er gehofft, dass Thomas für ihn arbeite. «Aber stattdessen hat er mit seiner Frau ein eigenes Unternehmen gegründet und es mit der gleichen Passion aufgebaut», sagt Hutter und lacht.
Zwischen zwei Welten. Im Porträt: Familie Zwahlen – Mit Kindern im Himalaya
Zwischen zwei Welten. Im Porträt: Familie Zwahlen – Mit Kindern im Himalaya
Die Bündner Berge sind auch die Heimat ihrer drei Kinder Gian-Andri, 13, Larina, 10, und Flurin, 8. In den vergangenen Jahren waren sie auf den Reisen oft mit dabei und pendeln genauso wie ihre Eltern zwischen den Welten, was durchaus zu Verwirrungen führen kann. In Nomaden-Lagern gibt es immer viele streunende Hunde, darunter manche mit aggressivem Verhalten. «Die muss man sich mit Steinen vom Leib halten», erzählt Martina. Das sei dort absolut normal. Werfe man in der Schweiz mit Steinen nach Hunden, könne das zu deutlichen Verstimmungen mit Hundebesitzern führen, sagt Thomas und schmunzelt dabei. «Das mussten wir unseren Kindern mit Nachdruck sagen.» 

Die Kinder geniessen die Zeit auf den Reisen. Gian-Andri mag die Spiele der einheimischen Kinder: «Die machen nicht normales «Fangis», sondern spielen mit dem Pfeilbogen, machen Feuer, werfen Steine oder springen von hohen Felsblöcken.» Larina gefällt vor allem, «dass wir unterwegs sind und immer weitergehen.» Und der kleine Flurin erinnert sich gerne an Thinle, einen 10-jährigen Hirtenknaben, den sie auf dem Trekking durch Bhutan im November 2019 antrafen. Auf knapp 4000 Metern spielte er mit dem Hirtenknaben mit einem Fussball, den sie aus der Schweiz mitgebracht hatten.

Entenfüsse und Hühnerkrallen

Die Reisen sind für die Kinder Abenteuer. Wenn sie in der Schule darüber berichten, macht sie das stolz. Aber ihr Leben findet in der Schweiz statt: Hier spielen sie Eishockey und gehen ins Ballett, hier sind die Freundinnen und Freunde, hier gibt es den Schnee zum Skifahren. Und vor allem: gutes Essen! Das ist auf Reisen nicht immer der Fall: Dort serviert man den hellhäutigen Gästen schon mal gebratene Entenfüsse, Schweinsohren, Hühnerkrallen und -köpfe. Will man den hohen Besuch so richtig verwöhnen, gibt man besonders viel ranzige Butter in den Tee. In Bhutan verwendet man Chili nicht als Gewürz in kleinen Dosen, sondern isst es als Gemüse in grösseren Mengen. Das alles verträgt sich nicht so gut mit Schweizer Kindermägen. Zum Glück gebe es immer auch Reis und Nudeln, sagt Gian-Andri, der durchaus abgehärtet ist. Als Kleinkind lebte er mit seinen Eltern fast zwei Jahre bei den Nomaden. Manchmal krabbelte er aus dem Zelt und kam erst Stunden später zurück, weil ihn die Einheimischen mit sich herumtrugen und mit allem Möglichen fütterten. Als Notvorrat sind heute immer Haferflocken mit auf Reisen. Auf ihren Familienreisen hätten sie noch nie grössere Probleme gehabt, sagt Thomas. «Wir rechnen viel mehr Zeit für die Höhenakklimatisation ein, haben eine umfangreiche Apotheke und auch sonstige Sicherheitsausrüstung mit dabei.» Jede Reise mit den Kindern gingen sie zudem mit dem Gedanken an, sie jederzeit abbrechen zu können. «Wir planen Ausstiegsmöglichkeiten bewusst ein.» Jetzt, da die Kinder die Schule besuchen, nutzt die Familie die im Kanton Graubünden besonders langen Sommerferien. Oder die Eltern erarbeiten den verpassten Schulstoff zu Hause mit den Kindern, wie vor der letzten Bhutan-Reise 2019.
«Will man den hohen Besuch so richtig verwöhnen, gibt man besonders viel ranzige Butter in den Tee.»
Zwischen zwei Welten. Im Porträt: Familie Zwahlen – Mit Kindern im Himalaya
Zwischen zwei Welten. Im Porträt: Familie Zwahlen – Mit Kindern im Himalaya

Meer, Strand und Pizza

Gian-Andri, der Älteste, sei allerdings während seines ersten Schuljahrs auch schon mal ein bisschen enttäuscht von der Schule in Parpan nach Hause gekommen. Alle hätten von den Ferien erzählt, nur er habe nichts zu berichten gehabt. «Die Reisen sind für sie ein Leben in einer anderen Welt», erklärt Martina und lacht. «Mit klassischen Ferien hat das offenbar nichts zu tun.» Gut möglich also, dass Familie Zwahlen bald einmal nicht in den Himalaya verreist, sondern ans Meer. Baden, Sandburgen bauen, Pizza essen am Abend. Ganz klassisch. Wenn man ihnen zuhört, mag man allerdings kaum daran glauben.

Himalaya Tours

Martina und Thomas Zwahlen haben mit einer grossen Passion ein eigenes Reiseunternehmen aufgebaut. «Himalaya Tours» organisiert inzwischen jährlich rund 140 Reisen in die Himalaya-Region: von Gruppen- bis hin zu Privatreisen in Nepal, Bhutan, Indien, Ladakh und Tibet. Dabei führen die Trekking- und Wanderreisen meist durch entlegene Gegenden im Himalaya, oft weit abseits der bekannten Routen. Vier Angestellte arbeiten im Büro in Parpan, rund 20 Reiseleiter sind im Einsatz. 

Der Aufbau hatte seinen Preis: In den ersten Jahren habe er jährlich bis zu 500 Überstunden geleistet und oft nachts gearbeitet, sagt Thomas Zwahlen. In diesem Jahr könne er nun erstmals kompensieren und nutze die freie Zeit – natürlich – unter anderem für mehrere längere Reisen in den Himalaya.

himalayatours.ch, himalaya-bilder.ch
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