Auf ein Wort mit Gleitschirmprofi Chrigel Maurer
Auf ein Wort mit Gleitschirmprofi Chrigel Maurer
 Datum: 07.07.2020 

Auf ein Wort mit Gleitschirmprofi Chrigel Maurer

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Auf ein Wort mit Gleitschirmprofi Chrigel Maurer

«Geduld kann schneller machen»

Niemand fliegt schneller über die Alpen als Chrigel Maurer. Zum Interview in Lenk, wo er abends einen Vortrag halten wird, reist der Adelbodner auf dem Landweg. Mit satten zwei Stunden Zeitpuffer für den Soundcheck – denn auch auf der Erde überlässt der Gleitschirmprofi nichts dem Zufall.
Auf ein Wort mit Gleitschirmprofi Chrigel Maurer
Auf ein Wort mit Gleitschirmprofi Chrigel Maurer
Auf deiner Homepage schreibst du, dass 2018 dein bisher erfolgreichstes Jahr gewesen sei. Woran machst du Erfolg fest? Am Gewinnen?
Nein. Wenn man sich Ziele setzt und diese erreicht, dann ist es erfolgreich. Das Verhältnis muss stimmen. Wenn ich zu viele meiner Ziele nicht erreiche, bin ich frustriert. Aber wenn ich alles gewinne, bin ich auch nicht ganz zufrieden. Dann hätte ich mir vielleicht höhere Ziele setzen können. Letztes Jahr war sehr strukturiert, ich hatte viele gute Ziele und viele Erfolge. Und ich hatte keinen Unfall. Es hat alles gepasst. 

Bist du ein strukturierter Typ?
Für die Wettkämpfe brauchst du eine Jahresplanung, du musst die Arbeit dazwischen planen, die Familie. Ich hätte gerne mehr Struktur. Aber ich bin eben auch vom Wetter und den Kunden abhängig. Das macht es schwierig. Ich gebe mir Mühe, strukturiert zu sein, aber es ist nicht immer möglich. 

In diesem Sommer startest du zum sechsten Mal bei den X-Alps. Bist du trotzdem noch aufgeregt?
Ja. Die Grundanforderungen sind zwar bekannt, aber es wird wieder eine neue Route geben. Ich habe ein neues Team und das Wetter wird auch neu sein. Diese Faktoren machen es immer wieder spannend. Ausserdem bin ich ein Wettkampftyp. Auch wenn ich das schon gemacht habe, will ich es trotzdem noch einmal gut machen.  

Naja, du hast die X-Alps fünf Mal gewonnen. Du reist doch sicher mit Ambitionen nach Salzburg?
Ja, klar. Ich weiss, warum ich die X-Alps gewinnen konnte. Aber ich weiss genauso gut, dass das auch mal nicht funktionieren kann.  

Was muss man tun, um als Erster in Monaco zu landen?
Man muss zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein und dann die richtigen Entscheidungen treffen. Klar muss man fit und logistisch gut aufgestellt sein. Das Team muss passen. Aber es kann alles noch so perfekt sein – wenn man falsche Entscheidungen trifft, gibt man Gas und kommt dennoch nicht voran. Geduld kann schneller machen. Abwarten kann auch mal eine gute Entscheidung sein, weil man dann vielleicht einen besseren Wind erwischt. 

Du hast 2018 auch das X-Pyr gewonnen, das Pyrenäen-Pendant zu den X-Alps. Wie unterscheiden sich die beiden?

Der Start ist beim X-Pyr am Meer. Nach dem Start muss man 25 Kilometer gehen, bis man überhaupt fliegen kann. Und am Ende musste ich sogar noch 33 Kilometer bis ins Ziel laufen. Die Pyrenäen sind logistisch komplizierter als die Alpen. Weniger Handynetz, weniger Strassen, die Sprache ist schwieriger. Es ist die halbe Distanz des X-Alps, aber das doppelte Abenteuer. Zudem werden die X-Alps medial extrem gepusht. Das ist super für das Image des Sports. Aber für uns Athleten ist es während des Rennens oft mühsam.
Auf ein Wort mit Gleitschirmprofi Chrigel Maurer
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Wie gehst du mit den Strapazen eines zweiwöchigen Wettkampfs um?
Ich empfinde das nicht als hart. Es geht los, und dann kommt immer der nächste Schritt. Man schlägt eine Pace an, die über eine längere Zeit machbar ist. Wenn es doch mal hart wird, macht man längere Pausen und überlegt besser. Wenn ich beim Fliegen ein höheres Risiko gehe, kann mich das schneller machen. Aber dann riskiere ich auch eine frühere Landung. Und das bedeutet, dass ich zu Fuss aufsteigen muss. Die Kunst ist, die Balance zu finden. Zwar schnell zu sein, aber nicht am Boden gehen zu müssen.  

Das heisst, wer schnell fliegt, verliert auch schnell an Höhe?
So ungefähr. Es ist ein bisschen wie beim Autofahren. Wenn du schneller fährst, brauchst du mehr Sprit. Dann musst du öfter eine Tankstelle anfahren. Da gibt es welche, die haben einen riesigen Tank, aber einen ganz dünnen Schlauch. Da brauchst du ewig zum Tanken. Dann ist es schlauer, langsamer zu fahren, um erst später tanken zu müssen. Manchmal kannst du ganz viel in kurzer Zeit tanken. Dann kannst du Gas geben. Bei uns sind das halt keine Tankstellen, sondern Thermiken. Das Problem ist: Wir wissen, es kommen solche Tankstellen. Aber wir wissen nicht, wie gut die sind. Das ist die Challenge.  

Offenbar gelingt es dir immer wieder zu fliegen, wo andere nicht mehr fliegen können. Woran liegt das?
Wenn es gut fliegt, fliegen alle weit. Wenn es nicht fliegt, fliegt keiner. Aber wenn es ein bisschen fliegt, habe ich den grössten Vorteil – und wenn es heftig wird. Ich habe früh begonnen, mich mit dem Schirm und mit den Groundhandling-Techniken zu befassen. Ich habe mir das von den Top-Piloten abgeschaut, als ich so zehn oder zwölf war. Ich weiss nicht, ob es ein Feeling gibt, das man in ganz jungen Jahren erlernt und das einem später hilft. Ich entscheide oft intuitiv und kann meine Handlung nicht immer erklären. Viele Piloten denken zu viel. In anderen Sportarten trifft man mit Denken und Wissen die besseren Entscheidungen. Das Problem beim Fliegen ist, dass man keine Fakten sammeln kann. Wenn man entscheiden muss, ob man links oder rechts ins nächste Tal fliegt, überlegt sich der eine Pilot, wo er die Wind-Messwerte im Internet bekommt. Dafür braucht er Ressourcen. Mir fällt es in solchen Situationen leicht, alles andere auszublenden. Ich sage mir, wenn ich links gehe, habe ich einen Idealfall und einen schlechtesten Fall. Und dann schau ich mal. Wie es dann wird, weiss ich aber auch nicht.  

Deine Intuition stützt sich also auf einen grossen Erfahrungsschatz?
Ja. Erfahrungen sind in Schubladen unterteilt und mein Gestell ist mittlerweile riesig. Ich kann auf viele Situationen zurückblicken, die ich so oder so ähnlich schon erlebt habe. Dann kann ich es nochmal so machen, oder halt nicht mehr. 

Du bist den ersten X-Alps geflogen, nachdem dein erster Sohn geboren wurde. Was war dein Antrieb?
Zuvor bin ich die Weltcup-Serie geflogen, da war ich viel mehr unterwegs. Beim X-Alps kann ich zu Hause trainieren und bin dann nur dreieinhalb Wochen weg. Diese Herausforderung passt besser zum Familienleben. Lieber einmal weg sein und voll pausieren als immer hin und her.
«Viele Piloten denken zu viel. Das Problem beim Fliegen ist, dass man keine Fakten sammeln kann.»
Auf ein Wort mit Gleitschirmprofi Chrigel Maurer
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Du hast vom Vater das Gleitschirmfliegen gelernt. Jetzt hast du selbst zwei Söhne. Wann dürfen die das erste Mal mit dem Schirm hantieren?
Die sind jetzt acht und zehn. Wir haben damals gesagt, bis vier müssen sie warten. Grundsätzlich wollen Kinder ja immer das, was die Eltern auch machen, ohne selbst zu überlegen. Ich denke, dass es sie fasziniert. Wennman abhebt, ist es emotional. Aber ich schaue, dass es nicht zu häufig ist, dass Fliegen nicht zur Gewohnheit wird. In der Schweiz ist 16 Jahre das Mindestalter für den Flugschein. Dann müssen sie entscheiden, ob sie die Ausbildung machen wollen. Aber jetzt ist es super. Wenn sie fliegen, finden sie das toll. Ob bei mir im Tandem, oder wenn sie selbst Startübungen machen.

Kannst du dich an deinen ersten eigenen Flug erinnern?
Ja, da war ich 13. Da war der Vater mit dabei, mit seinem Schirm. Er hat mich an einem Seil gezogen, mit ein paar Metern Abstand. Das war noch ein bisschen geführt. Alleine ist dann alles viel schneller und viel höher. Das ist mir gut in Erinnerung geblieben.  

Du schriebst einmal, dass es dein Ziel sei, bei deinen Handlungen die Limits genau zu kennen. 
In meinen jungen Jahren habe ich Sachen gemacht, ohne genau zu wissen, was ich tue. Diese Erfahrungen gingen zum Glück glimpflich aus. Zum Beispiel das Fliegen bei Föhn. Solange man hoch fliegt, ist es nicht gefährlich. Das Problem kommt, wenn man tiefer geht und landen will. Föhnwinde sind böig. Da kann man nicht kontrolliert landen. Heute mache ich das nicht mehr, weil es unvernünftig ist. Aber es war hilfreich. Eigentlich verrückt. Ich habe mir, teils auch mit sinnlosem Risiko, hilfreiches Know-how angeeignet. Aber man kann eigentlich keinem Jungen empfehlen, das nachzumachen. 

Wie tastet man sich ans Limit heran? 
Zum Beispiel kann man die Schirmbeherrschung bei Flugschul-Kursen über dem See trainieren. Dann kann man Starts und Landungen bei viel Schnee üben. Es geht darum, Grenzerfahrungen in einem sicheren Umfeld zu sammeln. Wie Freeskier, die ins Wasser und in Schaumstoffbälle jumpen.

Wann hattest du das letzte Mal so richtig Angst im Schirm?
Im Wettkampf bei Barcelonette in Frankreich. Da kam ein Gewitter auf und ich wusste, in der nächsten halben Stunde muss ich runter, sonst wird es gefährlich. Da war es am Schluss schon eng. Starke Winde, Regen. Es gibt Situationen, wo erst alles gut ausschaut, und dann ist auf einmal gar nichts mehr gut. Aber es gibt auch Situationen, bei denen du denkst: «Wenn das mal gut geht», und dann war es halb so schlimm. Häufig passiert das im Wettkampf, wenn das Wetter und äussere Einflüsse eine Rolle spielen und ich eine Erwartung an meine Leistung habe. Ohne Wettkampf würde ich einfach landen.  

Wie beurteilst du Aktionen wie die des Franzosen Antoine Girard, der über den Gipfel des 8157 Meter hohen Broad Peak geflogen ist? 
Ich kann nicht so einschätzen, was er genau gemacht hat und wie viel Risiko er eingegangen ist. Er hat mir davon im letzten Jahr erzählt und ich dachte, dass mir das ein bisschen zu viel Risiko gewesen wäre. So lange meine Jungs noch klein sind, brauche ich so etwas nicht. Aber falls es mir mal langweilig wird …
Christian «Chrigel» Maurer
wird am 27. Juli 1982 geboren. Der gelernte Maurer ist Vater von zwei Kindern. Den Gleitschirmsport erlernt er schon als Kind vom Vater, mit 16 (gesetzliches Mindestalter) macht Maurer den Flugschein. Seit 2012 ist er hauptberuflicher Gleitschirmpilot. Seine Spezialität sind Hike&Fly-Rennen – Maurer ist fünffacher Gesamtsieger des Red Bull X-Alps sowie dreifacher Gesamtsieger des X-Pyr. Zudem ist er mehrfacher Schweizer Meister in den Disziplinen Delta, Akro und Streckenflug. 

 Auch bei lokalen Bergläufen und Skitourenrennen belegt er immer häufiger den 1. Rang. Im Kalenderjahr 2018 legte er 365000 Aufstiegshöhenmeter aus eigener Kraft zurück. Ob bei all der Disziplin auch etwas Platz für Unvernunft im Leben bleibt, oder zumindest ein Hobby? «Nein, eigentlich nicht. Das ist nicht so mein Ding. Ich bin da fast zu ernsthaft bei allem.»

chrigelmaurer.ch
Was ist für dich unvernünftig?
Solche Dinge wie Speedriden oder Basejumpen oder Wingsuit. Ich habe viele Sprünge gemacht, vom Hubschrauber oder vom Ballon, auch mit tiefer Öffnung. Mit dem Speedrider kann man von jedem Gipfel starten, weil er so klein ist. Aber es ist halt nochmals eine Stufe extremer, weil man keine Reserve hat. Keinen Retter, keinen Protektor, keinen Helm. Nichts. Das Gefühl ist toller, aber es ist unvernünftig. Ausserdem braucht man viel Zeit dafür. Wenn man das nicht genau genug macht oder zu wenig intensiv, dann passiert halt schnell etwas. Der Unterschied ist, wenn beim Skifahren was passiert, dann ist es nicht gleich fatal. Beim Basejumpen ist es fatal. 

Auf welchen finanziellen Standbeinen steht man als Gleitschirmprofi?
Ich lebe von Sponsoren, Referaten, Medienarbeit, von Coachings und Weiterbildungen. Ich war auch in der Entwicklung von Schirmen involviert. Durch den Wettkampf kam ich in die Entwicklung und später zur Selbstständigkeit. Zudem arbeite ich beim Verband als Trainer. Das ist aber ein Teilpensum.  

Du gibst Coachings, sprichst vor Managern. Sind das deine Hauptkunden?
Das ist vielseitig. Beim Vortrag heute Abend sind es normale Zuhörer rund um den Gleitschirmsport. Weiterbildungen mache ich vor allem für Piloten. Und dann gebe ich Referate für Firmen. Da geht es in Führungsteams darum, ein Team besser zu motivieren oder zu strukturieren. Ich kann erzählen, was ich erlebt habe und was bei uns gut funktioniert. Wir überlegen, wo es Parallelen für deren Team gibt. 

Du unterstützt in deiner X-Alps Academy Nachwuchspiloten. Was gibst du ihnen mit?
Ich möchte meine Erfahrung so weitergeben, dass die Jungen davon profitieren. Das Ziel ist, den «Hike&Fly»-Nachwuchs auf ein höheres Level zu bringen. Ich habe viele Fehler gemacht, die andere nicht machen müssen. Ganz banale Sachen, wie Blasen an den Füssen zu haben und trotzdem weiterzugehen. Die Academy hat bisher gut funktioniert. Patrick von Känel ist selektioniert für die X-Alps. Sein Unterstützer für das Rennen ist auch in der Academy und vielleicht ein Kandidat für 2021. Zusammen macht es mehr Spass. Auf diesem Level trainieren nicht viele beim «Hike & Fly». Wenn jetzt die Jungen mitkommen und man gemeinsam Dinge optimiert, ist das schon super. 

Fehlt dem Nachwuchs durch die Ausbildung nicht die Möglichkeit, eigene Erfahrungen zu sammeln, die nicht im Lehrbuch stehen – wie du?
Ich kann den Jungen aufzeigen, was bei mir funktioniert hat. Ich helfe ihnen bei den Trainingsplänen, bei Leistungstests, bei der Materialbeschaffung oder der Sponsorensuche. An den Wettkämpfen schauen wir zusammen, was möglich ist, welche Taktik wir anwenden. Und nach dem Bewerb schauen wir, was gut war und wo man noch optimieren kann. Aber die Dinge machen und Erfahrungen sammeln, müssen sie selber.
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Du sagst, du seist ein Wettkampftyp. Für andere ist Fliegen oft ein Freiheitsideal. Gilt das für dich auch oder ist Fliegen einfach ein Wettkampf?
Fliegen ist schon Freiheit. Über die Berge fliegen und das machen, worauf ich Lust habe. Doch die Wettbewerbe sind auch ein Instrument zum Lernen. Hier lernt man viel schneller, welche Entscheide schnell machen oder Sicherheit bringen. Und man kann sich mit den weltbesten Athleten austauschen und von ihrem Know-how lernen. Aber ich habe zehn Ausrüstungen zu Hause. Je nachdem was ich machen will, nehme ich einen anderen Schirm. Wenn ich für mich fliegen gehe, dann ist das schon Freiheit.  

Was hat dich angefixt, das Fliegen zu erlernen?
Die Vögel. Die stehen einfach da, springen weg und fliegen. Die können machen, auf was sie gerade Lust haben. Der Gleitschirm ist ein Fluggerät, das in die Berge passt. Bei einem Drachen hat man einen grossen Aufwand. Auch Segelfliegen ist toll, aber es braucht einen Flugplatz und Personal. Beim Gleitschirm habe ich meinen Rucksack und bin völlig flexibel. 

Gibt es Orte auf der Welt, an denen du unbedingt noch fliegen möchtest? 
Im Moment habe ich noch einen hohen Drang, Wettbewerbe zu fliegen. Aber klar, für «Hike & Fly» Biwak-Flüge gibt es viele spannende Orte. Im vergangenen Jahr waren wir zum Beispiel mit einer Gruppe Piloten am Kilimandscharo. Ich würde gern mal zwischen Eisbergen herumfliegen. Auch der Himalaya reizt mich, aber das ist wegen der ganzen Permits sehr aufwendig. Dort ist vieles verboten. Wenn man trotzdem fliegt, muss man schauen, dass man nicht erwischt wird. Da relativiert der Aufwand den Ertrag. 

Aktuell liegt der Weltrekord beim Streckenfliegen bei 564 Kilometer. Wie weit kann man mit einem Gleitschirm fliegen?
Wir wollen im September oder Oktober nach Brasilien gehen, um diesen Rekord zu brechen. Wir denken, 600 bis 620 Kilometer wären möglich. In Sachen Logistik, Sicherheit und Flugbedingungen ist Brasilien am besten geeignet. Es gäbe noch andere Orte auf der Welt, aber da ist es zu gefährlich. In Afrika wurde ein Weltrekord aufgestellt, aber der war vom Wind her am Limit. 
«Wenn ich zu viele meiner Ziele nicht erreiche, bin ich frustriert. Aber wenn ich alles gewinne, bin ich auch nicht ganz zufrieden.»
Nach welchen Kriterien sucht man sich einen Ort für einen solchen Versuch aus? 
Es braucht viel Wind. Wir fliegen normalerweise um die 30 Kilometer pro Stunde. Die Flugzeit ist von der Sonne abhängig und dauert maximal zehn bis elf Stunden. Dann wärst du bei 330 Kilometern. Wenn du weiter fliegen möchtest, brauchst du mehr Wind. In den Alpen liegt der Rekord bei 350 Kilometern. Wenn es dort mehr Wind gibt, ist es zu turbulent – und dann wird es zu gefährlich. Deshalb können wir in den Alpen nicht weiter fliegen.

Es gibt ein Zitat von dir: «Wenn ich in den Spiegel blicke, schaue ich nicht nur, wie mein Gesicht aussieht.» Was hast du damit gemeint?

Manchmal denkt man, alles ist super. Aber wenn man sich von aussen betrachtet, bekommt man ein besseres Gefühl, ob das auch stimmt. Gerade im Bereich des «Schneller, Höher, Weiter» gibt es die Gefahr der Selbstüberschätzung. Da hilft es, ab und zu in den Spiegel zu schauen und sich zu fragen: «Was mache ich eigentlich? Ist das noch gesund? Macht das überhaupt noch Sinn?» 

Also überprüfst du auch am Boden ständig alle Faktoren. Ist das ein Charakterzug, den du durch das Fliegen gelernt hast?
Was zuerst da war, kann ich nicht sagen. Aber das Fliegen ist schon eine Lebensschule. Man schätzt das Wetter ein und überlegt, was man daraus macht. Ist es gut oder gefährlich? Kann ich es geniessen, oder muss ich eingreifen? Diese Einschätzungen helfen mir auch sonst im Leben. Mit dem Psychologen Thomas Theurillat habe ich versucht zu analysieren, wie ich Dinge angehe und was ich daran verbessern kann. Ich konnte vieles nicht benennen. Ich bin eben der intuitive Typ. 

Beim Fliegen schaut man ja auch von oben auf die Dinge. Hat das etwas Philosophisches für dich?
Nicht unbedingt. Aber wenn man wegfliegen kann, hat man einen anderen Fokus. Man hat zwar Probleme mit der Thermik oder mit dem Wind. Aber die Probleme von dort unten hat man nicht.

A oder B



Alpen
oder Pyrenäen?
Alpen

Fly oder Hike?
Fly

Höhe oder Weite?
Höhe

Raclette oder Rösti?
Raclette

Hütte oder Biwak?
Hütte

Skitour oder Marathon?
Skitour
Auf ein Wort mit Gleitschirmprofi Chrigel Maurer
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Wie gehst du mit den Strapazen eines zweiwöchigen Wettkampfs um? 

Ich empfinde das nicht als hart. Es geht los, und dann kommt immer der nächste Schritt. Man schlägt eine Pace an, die über eine längere Zeit machbar ist. Wenn es doch mal hart wird, macht man längere Pausen und überlegt besser. Wenn ich beim Fliegen ein höheres Risiko gehe, kann mich das schneller machen. Aber dann riskiere ich auch eine frühere Landung. Und das bedeutet, dass ich zu Fuss aufsteigen muss. Die Kunst ist, die Balance zu finden. Zwar schnell zu sein, aber nicht am Boden gehen zu müssen.  

 

Das heisst, wer schnell fliegt, verliert auch schnell an Höhe? 

So ungefähr. Es ist ein bisschen wie beim Autofahren. Wenn du schneller fährst, brauchst du mehr Sprit. Dann musst du öfter eine Tankstelle anfahren. Da gibt es welche, die haben einen riesigen Tank, aber einen ganz dünnen Schlauch. Da brauchst du ewig zum Tanken. Dann ist es schlauer, langsamer zu fahren, um erst später tanken zu müssen. Manchmal kannst du ganz viel in kurzer Zeit tanken. Dann kannst du Gas geben. Bei uns sind das halt keine Tankstellen, sondern Thermiken. Das Problem ist: Wir wissen, es kommen solche Tankstellen. Aber wir wissen nicht, wie gut die sind. Das ist die Challenge.  

 

Offenbar gelingt es dir immer wieder zu fliegen, wo andere nicht mehr fliegen können. Woran liegt das? 

Wenn es gut fliegt, fliegen alle weit. Wenn es nicht fliegt, fliegt keiner. Aber wenn es ein bisschen fliegt, habe ich den grössten Vorteil – und wenn es heftig wird. Ich habe früh begonnen, mich mit dem Schirm und mit den Groundhandling-Techniken zu befassen. Ich habe mir das von den Top-Piloten abgeschaut, als ich so zehn oder zwölf war. Ich weiss nicht, ob es ein Feeling gibt, das man in ganz jungen Jahren erlernt und das einem später hilft. Ich entscheide oft intuitiv und kann meine Handlung nicht immer erklären. Viele Piloten denken zu viel. In anderen Sportarten trifft man mit Denken und Wissen die besseren Entscheidungen. Das Problem beim Fliegen ist, dass man keine Fakten sammeln kann. Wenn man entscheiden muss, ob man links oder rechts ins nächste Tal fliegt, überlegt sich der eine Pilot, wo er die Wind-Messwerte im Internet bekommt. Dafür braucht er Ressourcen. Mir fällt es in solchen Situationen leicht, alles andere auszublenden. Ich sage mir, wenn ich links gehe, habe ich einen Idealfall und einen schlechtesten Fall. Und dann schau ich mal. Wie es dann wird, weiss ich aber auch nicht.  

 

Deine Intuition stützt sich also auf einen grossen Erfahrungsschatz? 

Ja. Erfahrungen sind in Schubladen unterteilt und mein Gestell ist mittlerweile riesig. Ich kann auf viele Situationen zurückblicken, die ich so oder so ähnlich schon erlebt habe. Dann kann ich es nochmal so machen, oder halt nicht mehr. 

 

Du bist den ersten X-Alps geflogen, nachdem dein erster Sohn geboren wurde. Was war dein Antrieb? 

Zuvor bin ich die Weltcup-Serie geflogen, da war ich viel mehr unterwegs. Beim X-Alps kann ich zu Hause trainieren und bin dann nur dreieinhalb Wochen weg. Diese Herausforderung passt besser zum Familienleben. Lieber einmal weg sein und voll pausieren als immer hin und her.