Auf zu neuen Ufern – Packraft
Auf zu neuen Ufern – Packraft
 Datum: 15.04.2020  Text: Moritz Becher 

Auf zu neuen Ufern – Packraft

Drücken Sie die Eingabetaste zum Suchen
Auf zu neuen Ufern – Packraft
Ein ultimatives Abenteuergefährt für den Rucksack? Gibt’s. Packrafting ist die vielleicht unkomplizierteste und schönste Form, (s)ein Land neu zu entdecken. Kompaktes Wissen über die kleinen Alleskönner auf dem Wasser.
Es gibt im siebten und letzten Band der Harry-Potter-Buchreihe diese eine Szene, nach der sich im Grunde auch jeder Outdoorer sehnt: Hermine Granger – die manchmal nervig vernünftige, dabei aber kongeniale Nachwuchszauberer-Kollegin Harry Potters – öffnet in einer wahrlich ungemütlichen Wald-Kalt-Situation ihr perlenbesetztes Handtäschchen. Und holt alles, wirklich alles aus diesem kleinen Tragebeutel hervor, was den Frischluft-Aufenthalt wirklich gut erträglich macht – unter anderem ein grosses Zelt, drei kuschelige Schlafsäcke, Proviant und eine halbe Bibliothek.

Grosser Spass, ganz klein und leicht: Diesen Traum verfolgt im Prinzip seit Beginn des globalen Ultralight-Hypes die gesamte Outdoor-Branche. Und: Es gibt bereits erste Erfolge zu vermelden. Zum Beispiel ein Boot, mit dem ein ausgewachsener Naturbursche samt Gepäck durch wilde Fluten paddeln kann, dieses aber – fast wie Hermine – zur Fortbewegung ausserhalb des Wassers auf ein minimales Packmass schrumpfen lassen und die leichte, aufgerollte Hülle im oder am Rucksack verstauen kann. Dieses Wundergefährt, das seinen Ursprung in den 80er-Jahren in den USA hat, erobert unter dem Namen «Packraft» zunehmend die Herzen von Outdoorern. Zu recht. Denn es ist, zumindest nach Ansicht des Autors, das Ticket in eine Abenteuerwelt, die nicht nur Profis vorbehalten bleibt. Dem Namen Packraft wird es in zweierlei Hinsicht gerecht: Zum einen durch das – für ein Boot (!) – geniale, rucksacktaugliche Packmass, zum anderen durch die Möglichkeit, darauf weitere Wildnisreise-Utensilien zu transportieren, etwa ein Bike. Auf diese Weise ist etwa Richard Löwenherz durch Sibirien gereist, die Reportage ist nachzulesen in der Outdoor Guide Sommerausgabe 2018.
Auf zu neuen Ufern – Packraft
Auf zu neuen Ufern – Packraft

Eliminierung aller Logistiksorgen

Das Prinzip Packraft ist so simpel wie genial: Ein – banal und ungerecht formuliert – Schlauchboot aus sehr leichtem, dünnem Material, das zwischen zwei und drei Kilogramm auf die Waage bringt und ausserordentlich gutmütig selbst in Wildwasser der Klasse III mit seinem Insassen umgeht. Und es schwindet, wie oben bereits angedeutet, bei Nichtgebrauch auf das Packmass eines Zwei-Personen-Zelts. Damit sind tatsächlich ziemlich viele Nachteile eines «normalen» Kanus eliminiert: Keine grossen logistischen Verrenkungen mit vorher zu parkierenden Shuttle-Fahrzeugen an Ein- und Ausstieg und der Notwendigkeit von XXL-Garagen zur Lagerung eines Festrumpfbootes. Im Gegenteil, Packrafts sind zu 100 Prozent ÖV-tauglich. Und keine Angst vorm Ausprobieren: Zum Kentern bedarf es fast schon einer hart entschlossenen Mutwilligkeit. Anders formuliert: Packrafts sind unglaublich kippstabil – und somit voll einsteigertauglich. Der Einsatzbereich reicht vom nachmittäglichen Mikro- bis zum mehrwöchigen Makro-Abenteuer. Zum Beispiel in der Altstadt Berns in die Aare einsetzen und sich treiben lassen – und irgendwann wieder mit Bus und Bahn zurück. Oder einen Punkt in Kanada oder Alaska auf der Karte aussuchen und dorthin aufbrechen. Beides – und alles dazwischen – ist möglich. Und bisweilen erlauben Packrafts uns auch, an Orte zu gelangen, die so nie erreichbar wären, weil die Kombination aus Trekking und Paddeln anders manchmal unlösbar ist. So überquerten die Abenteurer Børge Ousland und Mike Horn den Nordpol mit Packrafts. Im auftauenden Packeis und seinen Hunderten zu querenden, kurzen Kanälen waren die leichten Boote sehr dienlich.
3 Empfehlungen für Packrafting-Touren:
FLUSSWANDERN
Aare, Berner Oberland.
Einstieg Thun – Ausstieg Bern. 27 km.
WW 0 – I.
aarelauf.ch

WILDWASSER
Simme, Berner Oberland.
Einstieg Boltigen – Ausstieg Erlenbach. 14 km.
WW II+ – III-.
kajaktour.de/simme

FLUSS-TREKKING
Tagliamento, Venetien, Italien.
Einstieg Venzone (einfach) oder Tolmezzo (etwas schwerer) – Ausstieg Latisana (Ende Naturstrecke) oder Mittelmeer-Mündung bei Lignano. Bis 119 km. WW I, selten II.
flusswandern.at/tagliamento

Hightech: Material und Konstruktion

Entgegen ihrer fragilen Anmutung und Leichtigkeit trotzen die Luftschiffchen Fels- und Grundberührungen in erstaunlich hohem Masse. Möglich ist diese gefühlte Unvereinbarkeit durch innovative Materialentwicklungen. In der Regel verwenden die Hersteller ein mit TPU (thermoplastisches Polyurethan) beschichtetes Nylon-Gewebe. Diese Stoffe sind nicht nur extrem widerstandsfähig und abriebfest, sondern dabei auch noch verblüffend leicht. Sollte es dennoch zur «Stichverletzung» kommen, lassen sich die meisten Defekte mit einem Pflaster wie bei einer Isomatten-Reparatur flicken. Das Design der meisten Modelle ist ein bestmöglicher Kompromiss aus Wildwassertauglichkeit und Geradeauslauf. In Formsprache: hochgezogener Bug gegen Schwallwasser, spitz zulaufendes Heck für die Spurtreue. Als Zubehör ist oft ein «Skeg», also eine Art «Schwert», erhältlich, um den Geradeauslauf auf langen Touren zu optimieren. Zugegeben, grosse stehende Gewässer – mitunter sogar über Tage – mit einem Packraft zu bewältigen, ist entweder Fleissaufgabe oder Notwendigkeit. Das Spass-Terrain beginnt, sobald spürbare Fliessgeschwindigkeit gegeben ist. Alles zwischen Wildwasser Klasse 0 – gemütliches Dahintreiben – und Klasse III ist mit den meisten Packrafts gut machbar, setzt bei II und III aber nicht nur Paddelerfahrung, sondern v.a. auch Gewässer-Lesefähigkeiten voraus.

Die einzelnen Stoffteile werden bei hochwertigen Modellen direkt verschweisst oder erst vernäht und anschliessend verschweisst. So entstehen erst die rundumlaufenden, aufblasbaren Schläuche, dann kommt ein kräftiger Bodenstoff hinzu. Letzterer ist bei einigen Modellen als «Selbstlenzer» erhältlich, also perforiert. So kann sich Schwallwasser nicht im Boot sammeln. Als Sonderausstattung bieten einige Hersteller ab Werk sogenannte «Tube Zipper» an. Dabei werden in die grossen Schläuche zuverlässig dichte, massive Reissverschlüsse eingesetzt. Der Clou: Die gesamte Ausrüstung kann so in den Schläuchen verstaut werden. Das verlagert den Schwerpunkt nach unten, erhöht somit die ohnehin schon grosse Kippstabilität – und gibt Freiraum «an Deck».
Auf zu neuen Ufern – Packraft
Auf zu neuen Ufern – Packraft

Per Pumpsack ins feuchte Vergnügen

Aufgepumpt wird mit einem winddichten Stoffsack, der auf eine grosse Ventilöffnung gedrückt oder geschraubt wird. Dieses System erscheint auf den ersten Blick extrem langwierig, hat sich aber auch schon bei Luftmatten bewährt. Luft mit dem Sack einfangen, Sacköffnung zuklappen, mit angewinkeltem Oberkörper die Luft ins Ventil drücken, und wiederholen. Sieht ein wenig nach spontaner Blinddarm-Attacke aus, funktioniert aber gut. Der letzte Schliff für den passenden Druck erfolgt per Mundventil. Sitz, Lehne und optionale Bodenmatte sind ebenfalls aufblasbar. Mit etwas Übung ist ein Packraft in unter fünf Minuten einsatzbereit.

Je nach Gewässerart offerieren die Hersteller Modelle mit fest eingebauter Spritzdecke oder komplett offen. Gut gemeinter Rat: Wer regelmässig in etwas wilderen Gewässern unterwegs sein möchte, sollte zum Spritzschutz greifen, sonst muss man nach jeder dritten Flussbiegung anhalten und den Kahn ausleeren. Apropos Wildwasser: Viele Packrafts haben Schenkelgurte integriert. Da sie eine deutlich schlechtere Kraftübertragung als Wildwasserkajaks aufweisen, bieten diese individuell einstellbaren Schlaufen ein deutliches Spass-, Manövrier- und Sicherheitsplus. Etwaiges Gepäck lässt sich mit Spanngurten oder flexiblen Packnetzen an den Materialschlaufen an Deck sichern. Ist der Paddelspass vorbei, heisst es Ventilkappen auf, Luft austreiben, zusammenrollen, verpacken – und zur nächsten ÖV-Station, per pedes durchs Gestrüpp oder per Bike auf den Trail.
Auf zu neuen Ufern – Packraft
Auf zu neuen Ufern – Packraft

Sinnvolles Zubehör

Beim Paddeln gibt es wenig Zubehör, das sinnvoller ist als ein Paddel. Zum Packrafting empfiehlt sich ein idealerweise vierfach teilbares Modell mit leichtem, aber stabilem und im Winkel verstellbaren Schaft (z. B. aus Karbon) und harten Kunststoffblättern. Letztere sind zwar nicht ultraleicht, aber nahezu unkaputtbar. Durch die Vierfachteilung passt das Must-have per Spanngurt an jeden Rucksack – und garantiert neugierige Blicke in der Bahn … Zweites zwingendes Utensil: die Schwimmweste. Speziell für Packrafter sind komplett aufblasbare und somit besonders leichte Westen mit minimalem Packmass erhältlich. Allerdings: Bei schwerem Wildwasser ist ein Modell mit festen Auftriebskörpern und Bergegurt empfehlenswert. Je nach Jahreszeit und (Wasser-)Temperatur variiert die Bekleidungsempfehlung vom UV-resistenten Langarmshirt und Boardshorts bis zum wasserdichten Drysuit oder Neopren-Anzug. Beim Schuhwerk bitte im Hinterkopf behalten, dass unter Umständen längere Märsche durch unwegsames Gelände anstehen. Entweder man investiert in spezielle, zum Laufen und Wassersport geeignete Schlappen, oder man nimmt einfach ein Paar ältere, aber noch funktionstüchtige Multifunktionsschuhe (ohne Leder). Apropos Hinterkopf: Bitte den Helm nicht unterschätzen, selbst bei leichtem Wildwasser. Ein sauberer Schlag kann zur Bewusst- oder Orientierungslosigkeit unter Wasser führen …

Je länger die Tour, desto entscheidender ist der «Pack»-Anteil, sprich der Rucksack bzw. die Trageeinheit. Eines muss er ganz sicher sein: wasserdicht. Spart euch den Fehler, einen Drybag in einen normalen Trekkingrucksack zu stopfen, denn auch wenn innen alles trocken bleibt, wird der nasse Rucksack schwer wie Blei und auch nicht besser. Optimal sind spezielle, hundertprozentig wasserdichte Rucksäcke. Damit fällt das Tragen deutlich leichter und der Inhalt bleibt garantiert trocken. Wie ärgerlich (und mitunter gefährlich) wäre es, abends einen nassen Schlafsack auszupacken …
Relevante Weblinks
BEZUGSMÖGLICHKEITEN
siestaoppi.ch, faltboot.de, packrafting-store.de

KURSE UND BUCHBARE AUSFAHRTEN
siestaoppi.ch, packraft-touren.com

WILDWASSERKLASSIFIZIERUNG
kanu.de

PEGELSTÄNDE UND WETTER
rivermap.ch

LITERATUREMPFEHLUNG
«Paddelland Schweiz: Die 70 schönsten Kanutouren auf Schweizer Flüssen und Seen»,
Beat Oppliger, Patrick Frehner, Thomas Kettler Verlag, 2. Auflage, März 2020, CHF 31.90

Das Leben ist ein Regelwerk …

Grosse Teile der mitteleuropäischen Flüsse sind kanalisiert, begradigt, mit Wehren und Wasserkraftwerken durchsetzt – oder, völlig zu recht, unter Naturschutz gestellt. Natürlich sind es gerade die weitgehend naturbelassenen Abschnitte, die einen Paddler mit Abstand am meisten reizen. Deshalb die dringende Bitte, sich in der jeweiligen Region über die geltenden Befahrungsregeln und Naturschutzbestimmungen zu informieren. Häufig nisten im Uferbereich Vögel, leben Amphibien und Reptilien. Und ja, es ist Abenteuer-Romantik pur, am Flussufer ein Lagerfeuer zu entfachen und anschliessend bei Wasserrauschen im Schlafsack wegzuschlummern – und ebenso magisch, die Morgensonne glitzernd auf der Wasseroberfläche zu sehen, während der Nebel noch auf dem Fluss schwebt. Aber leider ist in der Schweiz das Wildcampen grossflächig verboten, wer es dennoch tut, sollte – das gebietet der Anstand – dafür sorgen, nicht zu stören und keinerlei Spuren zu hinterlassen. Kleiner Tipp: So einladend Kiesbänke zum Nächtigen auch sind, sie können bei Regenfällen – auch wenn diese zig Kilometer entfernt passieren – zu tödlichen Fallen werden.

Spass mit Suchtfaktor

Packrafting ist die Lösung mit Suchtfaktor für sicheren Paddelspass. Es ermöglicht das logistisch unkomplizierte Erobern neuer Flussregionen – und es ist, für Helden in spe, das Ticket zu echten Abenteuern in nahen und fernen Landstrichen. Würde Joanne K. Rowling einen achten Harry-Potter-Band schreiben, vielleicht würde sie ein Packraft in Hermines perlenbesetzte Handtasche packen.