Auf ein Wort mit Alpinist Jean Troillet
«Ich bin zu 100 Prozent im Jetzt.»
Kein künstlicher Sauerstoff, keine Biwaks, minimale Verpflegung: Jean Troillet pflegte einen radikalen Stil im Himalaya-Bergsteigen. Trotz seiner Erfolge ist der Walliser Bergführer jenseits alpiner Kreise nur wenig bekannt. Ein Gespräch über dünne Luft, Angst um die Kinder und Glückssterne.
Sie haben in einem TV-Interview einmal gesagt, dass Sie Ihrer Mutter sehr nahe standen. Wie hätte sie ihren Sohn beschrieben?
Ich war ein schreckliches Kind. Die Schule hat mich erdrückt und eingeschränkt, ich erlebte viele Ungerechtigkeiten. Meine überbordende Energie musste auf die eine oder andere Weise ausgelebt werden. Meine Eltern verstanden meine Bedürfnisse sehr gut und so liess mich mein Vater bereits im Alter von 10 Jahren 40 Kilogramm schwere Säcke schleppen. Ich war glücklich – ich konnte mich verausgaben und fühlte mich frei. Es war schwer für Mama, mich leiden zu sehen, aber sie verbarg es. Mit 18 Jahren begann ich die Bergführer-Ausbildung, genau wie mein grosser Bruder, der bereits als Führer arbeitete. Mutter hatte diese schreckliche Angst, weil zwei ihrer Kinder gleichzeitig in den Bergen unterwegs waren. Ich habe sie sehr leiden lassen, als ich im Himalaya war. Sie wusste sehr wohl, dass nicht jeder zurückkehrte, weil sie mich zu den Beerdigungen von Freunden begleitete. Als ich 1986 vom Everest zurückkam, tranken wir Kaffee und sie sagte: «Und jetzt, da es keinen höheren Berg mehr gibt - wirst du etwas kürzer treten?» Ich antwortete: «Ja, aber nächstes Jahr …» Sie unterbrach mich sofort und sagte: «Es ist gut so, ich habe schon verstanden.»
Sie wusste, dass Sie sie nicht ändern konnte ...
Ja. Eines Tages hörte sie auf, sich Sorgen zu machen. Ich hatte aussergewöhnliche Eltern, von denen ich mich immer verstanden fühlte.
Was hat Ihnen Ihre Mutter fürs Leben beigebracht?
Was mir an meiner Mutter gefiel, war der freundschaftliche Umgang, den sie mit meinen Freunden pflegte. Sie hat sie behandelt wie ihre eigenen Kinder. Das klang dann auch mal so: «Komm und setz dich hin, mein kleiner Erhard» (Anm. d. Red.: Erhard Loretan). Meine Freunde gingen bei uns zu Hause ein und aus, auch wenn ich nicht da war. Sie wussten, dass es immer was zu Essen und Trinken gab und einen Platz zum Übernachten. Für meine Freunde war sie «Mutter Adrienne». Mama hat mir auch viel Respekt und Ehrlichkeit beigebracht. Sie sagte: «Auch wenn du was Dummes gemacht hast, stehe dazu und sei ehrlich. Wir haben dir bereits vergeben.»
Zu welchem Zeitpunkt konnten Sie sich vorstellen, eigene Kinder zu bekommen?
Als ich zu meiner Frau Mireille «Ja» gesagt habe.
Nicht früher?
Nein. Vorher wollte ich ein freier Mann sein. Ich konnte von einer Expedition zurückkehren und drei Tage später wieder losziehen, um den Atlantik zu überqueren. Jetzt habe ich diese Freiheit nicht mehr. Aber die Kinder sind ein aussergewöhnliches Geschenk. Vater zu sein ist schöner, als auf dem Gipfel des Everest zu stehen.
Ich war ein schreckliches Kind. Die Schule hat mich erdrückt und eingeschränkt, ich erlebte viele Ungerechtigkeiten. Meine überbordende Energie musste auf die eine oder andere Weise ausgelebt werden. Meine Eltern verstanden meine Bedürfnisse sehr gut und so liess mich mein Vater bereits im Alter von 10 Jahren 40 Kilogramm schwere Säcke schleppen. Ich war glücklich – ich konnte mich verausgaben und fühlte mich frei. Es war schwer für Mama, mich leiden zu sehen, aber sie verbarg es. Mit 18 Jahren begann ich die Bergführer-Ausbildung, genau wie mein grosser Bruder, der bereits als Führer arbeitete. Mutter hatte diese schreckliche Angst, weil zwei ihrer Kinder gleichzeitig in den Bergen unterwegs waren. Ich habe sie sehr leiden lassen, als ich im Himalaya war. Sie wusste sehr wohl, dass nicht jeder zurückkehrte, weil sie mich zu den Beerdigungen von Freunden begleitete. Als ich 1986 vom Everest zurückkam, tranken wir Kaffee und sie sagte: «Und jetzt, da es keinen höheren Berg mehr gibt - wirst du etwas kürzer treten?» Ich antwortete: «Ja, aber nächstes Jahr …» Sie unterbrach mich sofort und sagte: «Es ist gut so, ich habe schon verstanden.»
Sie wusste, dass Sie sie nicht ändern konnte ...
Ja. Eines Tages hörte sie auf, sich Sorgen zu machen. Ich hatte aussergewöhnliche Eltern, von denen ich mich immer verstanden fühlte.
Was hat Ihnen Ihre Mutter fürs Leben beigebracht?
Was mir an meiner Mutter gefiel, war der freundschaftliche Umgang, den sie mit meinen Freunden pflegte. Sie hat sie behandelt wie ihre eigenen Kinder. Das klang dann auch mal so: «Komm und setz dich hin, mein kleiner Erhard» (Anm. d. Red.: Erhard Loretan). Meine Freunde gingen bei uns zu Hause ein und aus, auch wenn ich nicht da war. Sie wussten, dass es immer was zu Essen und Trinken gab und einen Platz zum Übernachten. Für meine Freunde war sie «Mutter Adrienne». Mama hat mir auch viel Respekt und Ehrlichkeit beigebracht. Sie sagte: «Auch wenn du was Dummes gemacht hast, stehe dazu und sei ehrlich. Wir haben dir bereits vergeben.»
Zu welchem Zeitpunkt konnten Sie sich vorstellen, eigene Kinder zu bekommen?
Als ich zu meiner Frau Mireille «Ja» gesagt habe.
Nicht früher?
Nein. Vorher wollte ich ein freier Mann sein. Ich konnte von einer Expedition zurückkehren und drei Tage später wieder losziehen, um den Atlantik zu überqueren. Jetzt habe ich diese Freiheit nicht mehr. Aber die Kinder sind ein aussergewöhnliches Geschenk. Vater zu sein ist schöner, als auf dem Gipfel des Everest zu stehen.
Was lehren Sie Ihre drei Kinder, was Sie in den Bergen nicht lernen können?
Sie lehren mich eine Menge Dinge. Zum Beispiel, wie man all die elektronischen Geräte bedient!
Sie haben einmal gesagt, dass man die Menschen so akzeptieren muss, wie sie sind. Gelingt Ihnen das auch bei den eigenen Kindern?
Ja, solange ich die Kinder ab und zu wieder auf den richtigen Weg bringen kann (lacht). Ich sage meinen Kindern oft, dass sie nicht in meine Fussstapfen treten, sondern ihre eigenen hinterlassen sollen. Sie müssen ihre eigenen Persönlichkeiten formen.
Die Wahlfreiheit ist eine Sache. Aber wären Sie glücklich, wenn eines Ihrer Kinder Ihrem Vorbild folgen würde?
Es müssen ja keine Achttausender sein. Wenn doch, dann würde ich am eigenen Leib erfahren, wie meine Mutter damals gelitten hat. Aber sind meine Kinder unter demselben Glücksstern geboren wie ich? Würden sie wissen, wann es am Berg Zeit zum Umkehren ist? Wann man das Leiden akzeptieren muss? Und wären sie ebenso felsenfest überzeugt wie ich damals, dass ich immer ins Basislager zurückkehren würde, selbst dann, wenn ich mir beide Beine gebrochen hätte?
Alles Kopfsache?
Ja, immer wieder der Kopf. Ich habe vor langer Zeit zwei Bündner Bergführer am Mount McKinley gesehen. Sie wurden von einer Lawine erfasst. Einer hatte den Kopf herausgezogen, litt aber an einem offenen Oberschenkelbruch. Er konnte sich befreien, entdeckte den Schuh des Freundes und zog ihn heraus. Als dieser die Augen öffnete, sah ihn der Freund an und sagte: «Oh, wir sind beide im Himmel, alles ist in Ordnung.» Letzterem wurden beide Knöchel zertrümmert. Eine Rettung war an diesem Ort unmöglich, da keine Funkkommunikation zustande kam. Mit seinen beiden gebrochenen Knöcheln musste er nach unten gehen und sich in seine Skischuhe zwängen, um das japanische Lager zu erreichen, von wo man die Rettungsdienste informieren konnte. Als ich das sah, dachte ich, dass wir noch sehr weit gehen können und dass der Mensch aussergewöhnliche Fähigkeiten hat.
Sie waren 21 Jahre alt, als Sie die Ausbildung zum Bergführer abgeschlossen haben …
Als junger Bergführer weiss man noch wenig über die Berge. Im Jahr 1969, als ich mein Bergführerdiplom erhielt, stürzte am Grand Combin eine Seilschaft vor uns ab und riss uns 500 Meter mit in die Tiefe. Einer meiner Gäste ist dabei gestorben. Ich musste schmerzhaft lernen, was die Aufgabe des Führerberufs ist: Man muss die Menschen heil wieder vom Berg bringen. Mit Freunden zu klettern, ist nicht dasselbe. Als Führer trägst du die ganze Verantwortung, sonst niemand.
Wie hat dieser Unfall Ihre Beziehung zum Bergführerberuf verändert?
Die ersten vier, fünf Jahre nach dem Unfall war ich während des Führens sehr angespannt. Aber ich habe aus diesem Unfall viel gelernt – danach war ich mental bereit, hochkonzentriert und nichts konnte mich erschüttern.
Sie lehren mich eine Menge Dinge. Zum Beispiel, wie man all die elektronischen Geräte bedient!
Sie haben einmal gesagt, dass man die Menschen so akzeptieren muss, wie sie sind. Gelingt Ihnen das auch bei den eigenen Kindern?
Ja, solange ich die Kinder ab und zu wieder auf den richtigen Weg bringen kann (lacht). Ich sage meinen Kindern oft, dass sie nicht in meine Fussstapfen treten, sondern ihre eigenen hinterlassen sollen. Sie müssen ihre eigenen Persönlichkeiten formen.
Die Wahlfreiheit ist eine Sache. Aber wären Sie glücklich, wenn eines Ihrer Kinder Ihrem Vorbild folgen würde?
Es müssen ja keine Achttausender sein. Wenn doch, dann würde ich am eigenen Leib erfahren, wie meine Mutter damals gelitten hat. Aber sind meine Kinder unter demselben Glücksstern geboren wie ich? Würden sie wissen, wann es am Berg Zeit zum Umkehren ist? Wann man das Leiden akzeptieren muss? Und wären sie ebenso felsenfest überzeugt wie ich damals, dass ich immer ins Basislager zurückkehren würde, selbst dann, wenn ich mir beide Beine gebrochen hätte?
Alles Kopfsache?
Ja, immer wieder der Kopf. Ich habe vor langer Zeit zwei Bündner Bergführer am Mount McKinley gesehen. Sie wurden von einer Lawine erfasst. Einer hatte den Kopf herausgezogen, litt aber an einem offenen Oberschenkelbruch. Er konnte sich befreien, entdeckte den Schuh des Freundes und zog ihn heraus. Als dieser die Augen öffnete, sah ihn der Freund an und sagte: «Oh, wir sind beide im Himmel, alles ist in Ordnung.» Letzterem wurden beide Knöchel zertrümmert. Eine Rettung war an diesem Ort unmöglich, da keine Funkkommunikation zustande kam. Mit seinen beiden gebrochenen Knöcheln musste er nach unten gehen und sich in seine Skischuhe zwängen, um das japanische Lager zu erreichen, von wo man die Rettungsdienste informieren konnte. Als ich das sah, dachte ich, dass wir noch sehr weit gehen können und dass der Mensch aussergewöhnliche Fähigkeiten hat.
Sie waren 21 Jahre alt, als Sie die Ausbildung zum Bergführer abgeschlossen haben …
Als junger Bergführer weiss man noch wenig über die Berge. Im Jahr 1969, als ich mein Bergführerdiplom erhielt, stürzte am Grand Combin eine Seilschaft vor uns ab und riss uns 500 Meter mit in die Tiefe. Einer meiner Gäste ist dabei gestorben. Ich musste schmerzhaft lernen, was die Aufgabe des Führerberufs ist: Man muss die Menschen heil wieder vom Berg bringen. Mit Freunden zu klettern, ist nicht dasselbe. Als Führer trägst du die ganze Verantwortung, sonst niemand.
Wie hat dieser Unfall Ihre Beziehung zum Bergführerberuf verändert?
Die ersten vier, fünf Jahre nach dem Unfall war ich während des Führens sehr angespannt. Aber ich habe aus diesem Unfall viel gelernt – danach war ich mental bereit, hochkonzentriert und nichts konnte mich erschüttern.
Jean Troillet
Jean Troillet wird am 10. März 1948 in Orsières geboren. 1969 erhält er das Bergführer-Diplom, in den 70er-Jahren arbeitet er als Heli-Skiführer in Kanada. In den 80er-Jahren wendet er sich dem Höhenbergsteigen im Himalaya zu. Troillet erreicht zehn der 14 Achttausender, stets im Alpinstil und ohne künstlichen Sauerstoff. Mit dem Schweizer Erhard Loretan bildet Troillet eines der leistungsfähigsten und stilvollsten Duos, das je im Höhenbergsteigen aktiv war. 1986 rasen Troillet und Loretan binnen 43 Stunden vom Basislager auf den Everest und wieder zurück – nur acht Jahre nach der ersten Besteigung ohne Sauerstoffflaschen. Auch der Pole Voytek Kurtyka ist einige Male mit von der Partie, dem Trio gelingen Neutouren am Cho Oyu und an der Shisha Pangma. 1997 veredelt Troillet seine Everest-Besteigung mit einer Snowboard-Abfahrt. Bis zu seinem Hirnschlag an der Annapurna im Jahr 2011 ist Troillet im Himalaya aktiv, oft an neuen Routen, bleibt aber ohne Gipfelerfolg. Verstärkt wendet er sich Expeditionen in arktische Regionen zu, die er filmisch aufbereitet. 2009 eröffnet er, 61-jährig, die «Sébastien Gay Memorial Route» in der Matterhorn-Nordwand. Troillet lebt mit seiner Ehefrau Mireille und drei Kindern in La Fouly, im hintersten Winkel des Val Ferret im Wallis.
Sie haben einmal gesagt, dass es Sie interessiert, «schwierige Abenteuer mit Freunden zu erleben». Weshalb?
Ich mag Grenzerfahrungen. Wenn man einen Sturm erlebt, wie ich ihn an der Annapurna zusammen mit Pierre-Alain Gailland erlebt habe, versteht man schnell, dass der Gipfel nicht wichtig ist im Leben. Es ist kein Erfolg, wenn man einen Freund auf dem Berg zurücklässt. Das war 1982 und wir haben es nicht auf den Gipfel geschafft. Aber dort oben, auf 8200 Metern, habe ich entdeckt, dass ich die Gene für grosse Höhen habe. Während der 40 Jahre des Abenteuers musste ich nie einen Freund am Berg zurücklassen – ein grosses Geschenk.
Gibt Ihnen das ein gutes Gefühl?
Ja, absolut. Ich habe es miterlebt, als Erhard Loretan seinen Seilpartner Pierre-Alain Steiner verloren hatte. In den vier Jahren danach war die Angst sein regelmässiger Begleiter. In den Basislagern war ich oft derjenige, der sich um die Toten kümmerte.
Worauf führen Sie zurück, dass Sie bei einer Expedition noch nie einen Freund verloren haben?
Auf meinen Glücksstern, auf den ich in meinem Herzen hören konnte, als er mir sagte, ich solle umdrehen.
Ihre Rekorde am Berg – was bedeuten sie Ihnen?
Es war absolut kein Ziel, am Mount Everest einen Rekord aufzustellen. Zurück im Basislager sagte Erhard Loretan zu mir: Dann machen wir nächstes Jahr den K2? Eine Wandhöhe von 3800 Metern. Ich überlegte nicht lange und antwortete: Ja, einverstanden. Die Franzosen konnten nicht verstehen, weshalb wir immer noch Freunde waren, obwohl wir beide auf demselben Niveau waren. Fakt ist, dass wir uns selbst nicht allzu ernst genommen haben.
Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb Sie noch am Leben sind?
Ja, wir kletterten zu unserem Vergnügen und nicht für den Ruhm. Im Vergleich zu Messner, Scott, Habeler oder Voytek (Kurtyka, Anm. d. Red.) war ich immer unbedeutend. Der Himalaya ist zu schön, um ihn zu einer Herausforderung zu machen. Ich wollte keine Achttausender besteigen, um darüber zu reden.
War es Ihnen nie wichtig, alle 14 Achttausender zu besteigen?
Nein, das war es nie. Bei Erhard Loretan war das anders, was ich verstehe. Als er zwölf der Achttausender ohne Sauerstoff bestiegen hatte, haben wir darüber gesprochen. Die letzten zwei fehlenden Gipfel haben wir dann gemeinsam bestiegen.
Ich mag Grenzerfahrungen. Wenn man einen Sturm erlebt, wie ich ihn an der Annapurna zusammen mit Pierre-Alain Gailland erlebt habe, versteht man schnell, dass der Gipfel nicht wichtig ist im Leben. Es ist kein Erfolg, wenn man einen Freund auf dem Berg zurücklässt. Das war 1982 und wir haben es nicht auf den Gipfel geschafft. Aber dort oben, auf 8200 Metern, habe ich entdeckt, dass ich die Gene für grosse Höhen habe. Während der 40 Jahre des Abenteuers musste ich nie einen Freund am Berg zurücklassen – ein grosses Geschenk.
Gibt Ihnen das ein gutes Gefühl?
Ja, absolut. Ich habe es miterlebt, als Erhard Loretan seinen Seilpartner Pierre-Alain Steiner verloren hatte. In den vier Jahren danach war die Angst sein regelmässiger Begleiter. In den Basislagern war ich oft derjenige, der sich um die Toten kümmerte.
Worauf führen Sie zurück, dass Sie bei einer Expedition noch nie einen Freund verloren haben?
Auf meinen Glücksstern, auf den ich in meinem Herzen hören konnte, als er mir sagte, ich solle umdrehen.
Ihre Rekorde am Berg – was bedeuten sie Ihnen?
Es war absolut kein Ziel, am Mount Everest einen Rekord aufzustellen. Zurück im Basislager sagte Erhard Loretan zu mir: Dann machen wir nächstes Jahr den K2? Eine Wandhöhe von 3800 Metern. Ich überlegte nicht lange und antwortete: Ja, einverstanden. Die Franzosen konnten nicht verstehen, weshalb wir immer noch Freunde waren, obwohl wir beide auf demselben Niveau waren. Fakt ist, dass wir uns selbst nicht allzu ernst genommen haben.
Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb Sie noch am Leben sind?
Ja, wir kletterten zu unserem Vergnügen und nicht für den Ruhm. Im Vergleich zu Messner, Scott, Habeler oder Voytek (Kurtyka, Anm. d. Red.) war ich immer unbedeutend. Der Himalaya ist zu schön, um ihn zu einer Herausforderung zu machen. Ich wollte keine Achttausender besteigen, um darüber zu reden.
War es Ihnen nie wichtig, alle 14 Achttausender zu besteigen?
Nein, das war es nie. Bei Erhard Loretan war das anders, was ich verstehe. Als er zwölf der Achttausender ohne Sauerstoff bestiegen hatte, haben wir darüber gesprochen. Die letzten zwei fehlenden Gipfel haben wir dann gemeinsam bestiegen.
«Ich war mir bewusst, dass mein Gehirn Dinge sah, die es nicht gab.»
Wurden Sie von anderen grossen Kletterern beeinflusst?
Erhard Loretan natürlich, aber auch Voytek Kurtyka, Pierre-Alain Steiner oder Doug Scott. Es war vor allem ihre Freundschaft, die mich berührte. Am Makalu traf ich Doug Scott. Er kam mit einer Flasche Glenfiddich Whisky in der Hand zu mir und sagte: «Jean, ich will dich nicht stören, aber ich möchte, dass du mir von deiner Besteigung des Everest erzählst. Ich weiss, dass du es schon hundertmal erzählt hast, aber bitte erzähle es noch einmal für mich. Danach trinken wir die Flasche zusammen.» Für mich ist er einer der grössten Bergsteiger, bezaubernd und bescheiden dazu.
Wenig Ausrüstung, kein Biwak, wenig Essen, Begehung im Alpinstil – Sie pflegten einen radikalen Stil an den Achttausendern.
Ja, es war ein ziemlich extremer Stil. Wenn man einen anderen Weg als den Normalweg begeht, ist der Lohn des Herzens viel grösser. Wir erkennen jetzt, dass unsere Route am Everest von aussergewöhnlicher Reinheit war. Wir hatten keinen Klettergurt, nur eine fünf oder sechs Millimeter starke Reepschnur um unsere Hüften, um uns irgendwo festzuhalten. Ansonsten hatten wir nur einen halben Liter kaltes Wasser und zwei Energieriegel, von denen wir nur einen gegessen haben. Als ich mit dem Snowboard vom Everest fuhr, war es dasselbe. Ich nahm nur einen Balisto-Riegel und ein Mini-Mars mit, wobei ich in den zwei Tagen nur das Mini-Mars gegessen hatte. Es ist seltsam, aber du hast keinen Hunger, wenn du etwas so Engagiertes machst – der Kopf ist angespannt und alles andere folgt.
Es ist schwer vorstellbar, dass …
Es ist hier schwer vorstellbar, aber da oben sind wir in einem anderen Zustand. Das Gehirn funktioniert dort anders, weil es nur ein Drittel des Sauerstoffs zu Verfügung hat. Die anderthalb Stunden auf dem Gipfel des Everest gibt es hier nicht, nur da oben kann man so etwas erleben. Dank meines extrem hohen Anteils roter Blutkörperchen habe ich mich in diesen Höhenlagen immer sehr wohlgefühlt.
Wie würden Sie diese Momente da oben beschreiben?
Ich bin zu 100 % im Jetzt, es zählt nur das Wesentliche. Es gibt nur eine Sache, die uns betrifft, und das ist das Leben. Ich konnte das nirgendwo sonst erleben.
Haben Sie einen vergleichbaren Moment auch schon mal woanders erlebt?
Nein. Die Halluzinationen, die ich zweimal am Everest und einmal am K2 erlebt habe, waren auch aussergewöhnlich. Ich war mir bewusst, dass mein Gehirn Dinge sah, die es nicht gab. Ich habe an Konferenzen für spezielle Begabungen teilgenommen, aber ich habe mich nie als jemand Besonderes gesehen. Ich habe einfach dieses Geschenk erhalten, dass mein Körper diese Prädisposition hat, auch ohne Sauerstoffflaschen auf Achttausender steigen zu können.
Sie hatten 2011 an der Annapurna einen Schlaganfall, der das Ende Ihrer Ambitionen an den Achttausendern bedeutete. Ein schwieriger Moment?
Als mir schwindlig wurde, hatte ich keine Ahnung, was los war. Ich dachte, dass alles in Ordnung sein würde, wenn ich erst einmal im Basislager wäre. Ich brauchte zwei Tage, um vom Berg herunterzukommen – das war unüblich lang. Im Basislager schlief ich dann drei Tage durch. Meine Freunde waren alarmiert und versuchten regelmässig, mich zu wecken. Aber ich sagte ihnen, dass ich müde sei und schlafen wolle. Zusätzlich liess mich ein bakterieller Infekt zwölf Kilogramm abnehmen. Nach einer Woche war das Wetter endlich so gut, das ich mit einem Hubschrauber ausgeflogen werden konnte. Erst im Krankenhaus in Sion wurde der Schlaganfall diagnostiziert. Die Kinder kamen zu mir und sagten: Papa, höre auf mit den Achttausendern – du machst uns Angst. Ich sagte einfach nur ja. Und ich wusste, dass ich diese Entscheidung akzeptieren würde, auch wenn es bedeuten würde, dass ich diese aussergewöhnlichen Momente in grossen Höhen nicht mehr erleben würde. Aber es war okay, denn es war der Wunsch meiner Kinder.
Erhard Loretan natürlich, aber auch Voytek Kurtyka, Pierre-Alain Steiner oder Doug Scott. Es war vor allem ihre Freundschaft, die mich berührte. Am Makalu traf ich Doug Scott. Er kam mit einer Flasche Glenfiddich Whisky in der Hand zu mir und sagte: «Jean, ich will dich nicht stören, aber ich möchte, dass du mir von deiner Besteigung des Everest erzählst. Ich weiss, dass du es schon hundertmal erzählt hast, aber bitte erzähle es noch einmal für mich. Danach trinken wir die Flasche zusammen.» Für mich ist er einer der grössten Bergsteiger, bezaubernd und bescheiden dazu.
Wenig Ausrüstung, kein Biwak, wenig Essen, Begehung im Alpinstil – Sie pflegten einen radikalen Stil an den Achttausendern.
Ja, es war ein ziemlich extremer Stil. Wenn man einen anderen Weg als den Normalweg begeht, ist der Lohn des Herzens viel grösser. Wir erkennen jetzt, dass unsere Route am Everest von aussergewöhnlicher Reinheit war. Wir hatten keinen Klettergurt, nur eine fünf oder sechs Millimeter starke Reepschnur um unsere Hüften, um uns irgendwo festzuhalten. Ansonsten hatten wir nur einen halben Liter kaltes Wasser und zwei Energieriegel, von denen wir nur einen gegessen haben. Als ich mit dem Snowboard vom Everest fuhr, war es dasselbe. Ich nahm nur einen Balisto-Riegel und ein Mini-Mars mit, wobei ich in den zwei Tagen nur das Mini-Mars gegessen hatte. Es ist seltsam, aber du hast keinen Hunger, wenn du etwas so Engagiertes machst – der Kopf ist angespannt und alles andere folgt.
Es ist schwer vorstellbar, dass …
Es ist hier schwer vorstellbar, aber da oben sind wir in einem anderen Zustand. Das Gehirn funktioniert dort anders, weil es nur ein Drittel des Sauerstoffs zu Verfügung hat. Die anderthalb Stunden auf dem Gipfel des Everest gibt es hier nicht, nur da oben kann man so etwas erleben. Dank meines extrem hohen Anteils roter Blutkörperchen habe ich mich in diesen Höhenlagen immer sehr wohlgefühlt.
Wie würden Sie diese Momente da oben beschreiben?
Ich bin zu 100 % im Jetzt, es zählt nur das Wesentliche. Es gibt nur eine Sache, die uns betrifft, und das ist das Leben. Ich konnte das nirgendwo sonst erleben.
Haben Sie einen vergleichbaren Moment auch schon mal woanders erlebt?
Nein. Die Halluzinationen, die ich zweimal am Everest und einmal am K2 erlebt habe, waren auch aussergewöhnlich. Ich war mir bewusst, dass mein Gehirn Dinge sah, die es nicht gab. Ich habe an Konferenzen für spezielle Begabungen teilgenommen, aber ich habe mich nie als jemand Besonderes gesehen. Ich habe einfach dieses Geschenk erhalten, dass mein Körper diese Prädisposition hat, auch ohne Sauerstoffflaschen auf Achttausender steigen zu können.
Sie hatten 2011 an der Annapurna einen Schlaganfall, der das Ende Ihrer Ambitionen an den Achttausendern bedeutete. Ein schwieriger Moment?
Als mir schwindlig wurde, hatte ich keine Ahnung, was los war. Ich dachte, dass alles in Ordnung sein würde, wenn ich erst einmal im Basislager wäre. Ich brauchte zwei Tage, um vom Berg herunterzukommen – das war unüblich lang. Im Basislager schlief ich dann drei Tage durch. Meine Freunde waren alarmiert und versuchten regelmässig, mich zu wecken. Aber ich sagte ihnen, dass ich müde sei und schlafen wolle. Zusätzlich liess mich ein bakterieller Infekt zwölf Kilogramm abnehmen. Nach einer Woche war das Wetter endlich so gut, das ich mit einem Hubschrauber ausgeflogen werden konnte. Erst im Krankenhaus in Sion wurde der Schlaganfall diagnostiziert. Die Kinder kamen zu mir und sagten: Papa, höre auf mit den Achttausendern – du machst uns Angst. Ich sagte einfach nur ja. Und ich wusste, dass ich diese Entscheidung akzeptieren würde, auch wenn es bedeuten würde, dass ich diese aussergewöhnlichen Momente in grossen Höhen nicht mehr erleben würde. Aber es war okay, denn es war der Wunsch meiner Kinder.
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Ja, der horizontale Schnee. Der Wechsel von vertikal zu horizontal ist immer noch eine 90°-Wendung in meinem Leben! Ich interessiere mich für die Pole, obwohl es sich um lebensfeindliche Gegenden handelt. Ich bin sehr glücklich und hoffe, im nächsten Jahr zum Südpol zu fahren.
Haben Sie dort die gleichen Empfindungen wie in der Vertikalen?
Nein. Aber ich erlebe die Antarktis als einen sichereren Ort. Kein Steinschlag, keine Gletscherspalten, keine Lawinen. Es ist noch leiser, nicht wahr?
Was ist Ihr Grund, zu leben?
Die Kinder. Und die Natur. Ich akzeptiere nicht, dass wir über die globale Erwärmung sprechen, ohne die grossen ökologischen Katastrophen wie die Ölsandproduktion oder die Kriege zu erwähnen. Und dann werden wir von allen Seiten belehrt … Manchmal möchte ich mich komplett zurückziehen, um diese politische Heuchelei nicht mehr hören zu müssen. Politik ist nichts anderes als ein Haufen Lügen. Manchmal begleite ich Ausflüge mit jungen Menschen aus einem Jugendgefängnis. Einer bemerkte einmal, nachdem ich der Gruppe einen meiner Filme gezeigt hatte: «Herr Jean, es ist wirklich schön, was Sie da tun. Aber das Leben ist nicht so. Ich gebe zu: Ich habe gestohlen. Und ich bezahle dafür! Aber wenn ich mich umsehe, gibt es da nur Heuchler, die nicht für ihre Betrügereien bezahlen!» Nach einem Moment des Zögerns antwortete ich: «Wenn du gestohlen hast, dann war es deshalb, weil du dir nicht etwas kaufen konntest, um mit deinem Freund von nebenan gleich zu sein. Warum bist du nicht einfach du selbst, hörst auf dich selbst und tust, was du tun willst? Es reicht nicht aus, andere nachzuahmen. Erkenne, dass du in diesem Gefängnis bist, weil du jemand anderes als du selbst sein wolltest. Hab die innere Kraft, du selbst zu sein!»
Sie haben einmal gesagt: Ich liebe die Natur, im Gegensatz zum Menschen ist sie immer ehrlich?
Ja, genau. Mike Horn sagt immer, dass es nicht die Natur sei, die ihm Angst mache, sondern die Menschen. Ich habe zwei Mal um mein Leben gebangt – beide Male wegen Menschen. Einmal in Papua-Neuguinea, als wir eine falsche Strasse wählten und in einem Dorf von Einheimischen mit Macheten gejagt wurden.
In grosser Höhe ist der Tod nie weit weg. Wie hat das Ihre Sichtweise auf das Leben verändert?
Ich gehe nicht in die Berge, um zu sterben. Ich gehe dorthin, um eine gute Zeit zu haben und danach wieder nach Hause zu kommen. Natürlich habe ich unzählige Unfälle gesehen und oft bei der Rettung geholfen. Das Leben hat mir ein aussergewöhnliches Geschenk gegeben: Ich kann helfen und Leben retten. Auch deshalb habe ich immer versucht, mich in sehr guter körperlicher Verfassung zu halten. Damit ich auch dann noch helfen konnte, wenn ich selber schon sehr, sehr müde war. Aber ich hatte die Fähigkeit zu schlafen, während ich ging!
Mit Erhard Loretan spürten sie eine Präsenz an der Spitze des Everest …
Ja, es war unbeschreiblich. Wir haben es beide gespürt. Ich hatte das nie wieder woanders.
Hat das Ihr Leben beeinflusst?
Nein, nicht besonders. Es war in diesem Moment etwas Besonderes, das ist alles. Die Wahrheit kann nicht beschrieben werden.
Bedauern Sie irgendetwas in Ihrem Leben?
Nein, überhaupt nicht – ich kann ohne Bedauern sterben. Aber noch bin ich nicht bereit dafür, denn ich will mit meinen Kindern leben. Ich hänge noch am Leben – heute mehr als jemals zuvor!
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Nein. Aber ich erlebe die Antarktis als einen sichereren Ort. Kein Steinschlag, keine Gletscherspalten, keine Lawinen. Es ist noch leiser, nicht wahr?
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Die Kinder. Und die Natur. Ich akzeptiere nicht, dass wir über die globale Erwärmung sprechen, ohne die grossen ökologischen Katastrophen wie die Ölsandproduktion oder die Kriege zu erwähnen. Und dann werden wir von allen Seiten belehrt … Manchmal möchte ich mich komplett zurückziehen, um diese politische Heuchelei nicht mehr hören zu müssen. Politik ist nichts anderes als ein Haufen Lügen. Manchmal begleite ich Ausflüge mit jungen Menschen aus einem Jugendgefängnis. Einer bemerkte einmal, nachdem ich der Gruppe einen meiner Filme gezeigt hatte: «Herr Jean, es ist wirklich schön, was Sie da tun. Aber das Leben ist nicht so. Ich gebe zu: Ich habe gestohlen. Und ich bezahle dafür! Aber wenn ich mich umsehe, gibt es da nur Heuchler, die nicht für ihre Betrügereien bezahlen!» Nach einem Moment des Zögerns antwortete ich: «Wenn du gestohlen hast, dann war es deshalb, weil du dir nicht etwas kaufen konntest, um mit deinem Freund von nebenan gleich zu sein. Warum bist du nicht einfach du selbst, hörst auf dich selbst und tust, was du tun willst? Es reicht nicht aus, andere nachzuahmen. Erkenne, dass du in diesem Gefängnis bist, weil du jemand anderes als du selbst sein wolltest. Hab die innere Kraft, du selbst zu sein!»
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Ja, genau. Mike Horn sagt immer, dass es nicht die Natur sei, die ihm Angst mache, sondern die Menschen. Ich habe zwei Mal um mein Leben gebangt – beide Male wegen Menschen. Einmal in Papua-Neuguinea, als wir eine falsche Strasse wählten und in einem Dorf von Einheimischen mit Macheten gejagt wurden.
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Ich gehe nicht in die Berge, um zu sterben. Ich gehe dorthin, um eine gute Zeit zu haben und danach wieder nach Hause zu kommen. Natürlich habe ich unzählige Unfälle gesehen und oft bei der Rettung geholfen. Das Leben hat mir ein aussergewöhnliches Geschenk gegeben: Ich kann helfen und Leben retten. Auch deshalb habe ich immer versucht, mich in sehr guter körperlicher Verfassung zu halten. Damit ich auch dann noch helfen konnte, wenn ich selber schon sehr, sehr müde war. Aber ich hatte die Fähigkeit zu schlafen, während ich ging!
Mit Erhard Loretan spürten sie eine Präsenz an der Spitze des Everest …
Ja, es war unbeschreiblich. Wir haben es beide gespürt. Ich hatte das nie wieder woanders.
Hat das Ihr Leben beeinflusst?
Nein, nicht besonders. Es war in diesem Moment etwas Besonderes, das ist alles. Die Wahrheit kann nicht beschrieben werden.
Bedauern Sie irgendetwas in Ihrem Leben?
Nein, überhaupt nicht – ich kann ohne Bedauern sterben. Aber noch bin ich nicht bereit dafür, denn ich will mit meinen Kindern leben. Ich hänge noch am Leben – heute mehr als jemals zuvor!